Esteban schweigt nicht mehr

AUS BUENOS AIRES JÜRGEN VOGT

„Für uns Argentinier sind die Malwinen Teil der nationalen Identität, sie sind ein Symbol unserer Forderung nach Souveränität“, sagt Edgardo Esteban. „Wir lernen das schon in der ersten Klasse.“ Überall im Land stehen Schilder mit der Aufschrift: Die Malwinen sind argentinisch. Keine Stadt, kein Dorf ohne eine Plaza de las Malvinas. „Die Malwinen sind das kleine Brüderchen, dass wir verloren haben. Und dieses Gefühl hat die Militärregierung 1982 ausgenutzt, und der Krieg von damals hat es noch verstärkt, denn er hat viele Wunden hinterlassen.“ Auch für Esteban waren und sind die Malwinen argentinisch.

Am 2. April 1982 landeten argentinische Invasionstruppen auf den britischen Falklandinseln im Südatlantik. Der damals 19-jähriger Esteban musste als Wehrpflichtiger an der Invasion teilnehmen. Mit der Besetzung versuchte die Militärregierung in Buenos Aires ihre Macht zu retten. Im Dezember 1981 hatte General Leopoldo Galtieri die Führung der Militärregierung übernommen. Doch die neue Junta bekam die sozialen und wirtschaftlichen Probleme nicht mehr in den Griff. Die Menschen spürten das. Noch wenige Tage vor der Invasion war es zu Protestdemonstrationen gekommen.

Jubel für Galtieri

Die Falklandinseln liegen rund 500 Kilometer vor der argentinischen Küste im Südatlantik. Die erste Landung erfolgte 1690 durch den Engländer John Strong. Er benannte die Meerenge zwischen den beiden großen Inseln „Falkland Sund“, nach dem englischen Lord Falkland, der seine Reise finanziert hatte. Der Name Malwinen stammt dagegen von französischen Seefahrern, die die Inseln als Erste besiedelten und sie nach ihrem Heimathafen Saint Malo Îles Malouines nannten. 1769 verkauften die Franzosen ihren Teil der Inseln an Spanien. Die Spanier nannten sie in Anlehnung an den französischen Namen Las Malvinas.

Die Inselgruppe umfasst rund 200 einzelne Inseln. Auf den zwei größten Inseln leben knapp 3.000 Bewohner überwiegend britischer Abstammung und unzählige Schafe. 1833 wurde die Inseln von britischen Truppen besetzt. Das Jahr gilt in der argentinischen Geschichtsschreibung als das „der Usurpation der Inseln durch Großbritannien“. Offiziell gehören die Falklandinseln als britisches Überseegebiet zum Vereinigten Königreich. Heute sind gut 1.700 britische Soldaten auf ihnen stationiert.

Die Rechnung der Militärjunta ging zunächst auf. Die Invasionstruppen stießen auf keinen Widerstand. Die Bevölkerung reagierte euphorisch auf die Nachricht von der Landung. Die Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires war voll Fahnen schwenkender Menschen, die Galtieri zujubelten. Der Patriotismus erfasste selbst Menschenrechtsorganisationen, die die Generäle mit dem Spruchband „Die Malwinen sind argentinisch – die Verschwundenen auch“ grüßten. „Wir hatten zuvor noch gegen die Militärregierung protestiert, nach der Nachricht meldeten mein Vater und ich uns als Freiwillige“, so ein ehemaliger Malwinenkämpfer über den gelebten Widerspruch von damals. Ein kollektives Nationalgefühl hatte das Land erfasst.

Im Frühjahr 1982 befanden sich auf den Falklandinseln nur rund 80 britische Soldaten. In der ersten Aprilwoche verlegten die argentinischen Generäle 10.000 Rekruten auf die Inseln. Esteban war einer davon: „Ich war schon ein Jahr in der Ausbildung, aber die Mehrzahl waren Wehrpflichtige mit gerade mal 20 Tagen Ausbildung. Die lernten erst auf den Malwinen mit einer Waffe umzugehen. Wir waren alles andere als auf einen Krieg und das Töten vorbereitet.“ Den jungen Wehrpflichtigen mit ihren veralteten Waffen standen bald gut ausgerüstete britische Soldaten gegenüber.

Der UN-Sicherheitsrat hatte Argentinien bereits am 3. April zum sofortigen Verlassen der Inseln aufgefordert. Die britische Regierungschefin Margret Thatcher gab am 5. April der britischen Kriegsmarine den Befehl zum Auslaufen. Die argentinischen Militärs glaubten noch, dass sich die USA neutral verhalten würden. Der damalige US-Außenminister Alexander Haig reiste zu Verhandlungen nach Buenos Aires. Als Haig merkte, dass sich Galtieri in der Sache nicht bewegte, ließ er es sein. US-Präsident Ronald Reagan stellte sich auf die Seite Großbritanniens. Die amerikanische Militärbasis auf der Insel Ascension diente zur Versorgung der britischen Schiffe – auch mit Treibstoff. „Ohne diese Unterstützung hätten die Briten die Truppenverlagerung nicht bewerkstelligen können“, ist sich Esteban sicher. „Insofern waren die USA direkt am Krieg beteiligt.“

In der zweiten Aprilwoche begannen britischen Luftangriffe. Am 2. Mai wurde der argentinische Kreuzer „General Belgrano“ außerhalb der als Sperrgebiet festgesetzten 200-Meilen-Zone von einem britischen Atom-U-Boot versenkt. 323 argentinische Besatzungsmitglieder kamen dabei ums Leben. Am 20. Mai begannen die britischen Verbände dann mit der Rückeroberung. Am 14. Juni kapitulierten die Argentinier. 650 Argentinier, 255 Briten und 3 Inselbewohner starben in den 74 Tagen des Krieges.

Als die Militärs die Niederlage bekannt gaben, entlud sich der Hass auf die Diktatur. Galtieri wurde nach drei Tagen abgelöst, der Übergang zur Demokratie begann. Doch der Krieg, die Opfer, die Niederlage, das alles war plötzlich vergessen. Alle ehemaligen Kämpfer mussten sich in einer eidesstattlichen Erklärung zum Schweigen verpflichten, die argentinische Gesellschaft blendete die Tage vom 2. April bis zum 14. Juni einfach aus. „Niemand übernahm die Verantwortung. Als Opfer der Militärdiktatur wurden wir einfach verschwiegen“, so Esteban. Zwar wurde Galtieri 1986 wegen Fehler im Krieg, nicht aber wegen des Krieges, zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Er wurde jedoch durch die Amnestiegesetze unter Präsident Carlos Menem begnadigt. Im Januar 2003 stirbt Galtieri starb im Alter von 76 Jahren an Herzversagen.

In Argentinien war der Krieg jahrelang ein Tabuthema. „Alle hatten den Krieg verdrängt“, erinnert sich der heute 44-jährige Esteban. „Es herrschte ein für uns schreckliches Schweigen. Ich hatte immer gesagt, wenn ich nach Hause komme, werden sie mich einen Helden nennen, es wird Konfetti regnen, und ganz Argentinien wird auf mich warten. Aber als ich zurückkam, bellte nur ein Hund, und meine Mutter wartete auf mich.“ Viele der jungen ehemaligen Wehrpflichtigen zerbrachen an dem Schweigen und nahmen sich in den Jahren nach dem Krieg das Leben. Offizielle Zahlen gibt es keine, die Schätzungen der Veteranenverbände schwanken zwischen 350 und 500 Suiziden.

Esteban schreibt ein Buch

Edgardo Esteban wäre beinahe selbst auf den Falklandinseln gestorben. Er hatte mit einem Kameraden den Wachdienst getauscht, dieser wurde dann bei der Wache getötet. „Ich hatte den Tod bis dahin nicht kennen gelernt. Bis heute habe ich das Gefühl, einen Teil von mir auf den Inseln gelassen zu haben.“ Er dachte oft daran, sich das Leben zu nehmen, „dann machte ich eine Therapie, mentales Training, Theater, ging in die Kirche“. Um das Erlebte zu bewältigen, schrieb er ein Buch, dass er 1993 unter dem Titel „Iluminados por el fuego“ („Vom Feuer erleuchtet“) veröffentlichte. „Für mich war es wie eine große Medizin gegen meine Krankheit, die mir der Krieg hinterlassen hat.“ Das Buch diente als Vorlage zum gleichnamigen Film, der 2005 in die Kinos kam und in Argentinien eine große Debatte auslöste. Heute wird Esteban oft von Schulen eingeladen, um mit den Schülern gemeinsam den Film zu sehen und anschließend über den Krieg und seine Folgen zu diskutieren.

Viele der damals 18- und 19-Jährigen leiden noch heute unter Depressionen und Traumata. Sie berichten von gesellschaftlicher Diskriminierung. Nicht wenige verschwiegen jahrelang ihren Einsatz auf den Inseln. „Ich kenne viele, die lügen mussten, um Arbeit zu finden“, sagt Esteban. „Wenn du Grenzsituationen erlebt hast, ist es sehr schwer sich wieder anzupassen. Die Leute sehen in dir einen Geist, ein Monster. Es ist ein großes soziales Problem, das es nicht nur in Argentinien gibt.“ Er hat es in England erlebt und bei französischen Veteranen des Algerienkriegs beobachtet: „Und es passiert in New York mit denen, die jetzt aus dem Irak zurückkommen.“