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Bei Wut hilft Holzhacken

SEHNSUCHTSORTE In „Bodenprobe Kasachstan“, von Stefan Kaegi inszeniert, erzählen Russlanddeutsche und Kasachen im Theater am Halleschen Ufer, was sie in die Ferne trieb und wie sie Geschichte erinnern

Wer von Kasachstan hierher kam, will aber partout nicht mehr dorthin zurück

VON TOM MUSTROPH

Den Schweizer Regisseur Stefan Kaegi ergreift das Fernweh immer wieder. In seinem jüngsten Stück begibt er sich auf eine theatrale Erkundungsfahrt ins seltsame Reich des gerade mit 95 Prozent der Stimmen wiedergewählten Präsidenten Nursultan Nasarbajew von Kasachstan. Mit nach Deutschland gezogenen Russlanddeutschen sowie deutschen Experten des kasachischen Alltags fördert er in „Bodenprobe Kasachstan“ sehr widersprüchliche Erkenntnisse zutage.

„Wer dieses Stück gesehen hat, will sofort nach Kasachstan“, behauptete Matthias Lilienthal anlässlich der Premiere der Produktion von Rimini Protokoll in seinem Hause. Wie es im Leben oft passiert, hatte der HAU-Intendant mit seinem Werbespruch völlig recht – und lag zugleich total daneben. Konjunkturritter dürften sich ganz schnell auf den Weg ins Öl- und Gasreich in der mittelasiatischen Steppe machen. Ein Exemplar dieser Sorte wird per Videoeinsprengsel zugeschaltet. Der Mann, der früher nach Öl gebohrt hat und nach Selbstauskunft deutscher Honorarkonsul ist, protzt mit den Tagessätzen für Ölbohrer von 1.500 bis 2.500 Dollar und geringen Steuern. Auch der ein oder andere von der letzten Krise enttäuschte Dubai-Liebhaber könnte angesichts der kitschig-märchenhaften Architektur der Retortenhauptstadt Astana in kasachische Versuchungen geraten.

Wer von dort kam, will aber partout nicht mehr dorthin zurück. Der gebürtige Kasache Nurlan Dussali, der in Deutschland zunächst mit Öl handelte und jetzt Solarzellen vermarktet, bleibt wegen der befürchteten Korruption seiner Heimat lieber fern. „Wenn du dort ein Unternehmen hast, das wächst, dann interessieren sich zu schnell andere Leute dafür und verlangen etwas“, erzählt er. Heinrich Wiebe, ein Russlanddeutscher, der einst einen Truck durch die Weiten der kasachischen Steppe steuerte und jetzt in Berlin-Lichtenberg nur ein Fahrrad sein eigen nennt, würde die 800 Euro, die ein Flug nach Astana kostet, lieber in einen Amerika-Trip investieren. Helene Simkin will noch höher hinaus. Sie hat aus Kasachstan nur die romantische Liebe zum nahe gelegenen Kosmonautenstädtchen Baikonur mitgenommen; sie versucht sich jetzt mit Längsachsendrehungen im Rhönrad weltraumfit zu machen. Elena Panibratowa schließlich, die aus Kasachstans Nachbarland Tadschikistan stammt, bevorzugt ebenfalls andere Ziele als ihre Herkunftsregion.

„Bodenprobe Kasachstan“ lebt von den widerstreitenden Sehnsüchten des Regisseurs und seinen aus der Gegenrichtung gekommenen Protagonisten. Für Spannung sorgen auch die sich mal ergänzenden und mal widersprechenden Perspektiven der Spieler selbst. Während der im Anzug die Bühne erobernde Geschäftsmann Dussali sich trotz aller Kritik an der Heimatgesellschaft vornehmlich als stolzer Kasache präsentiert, blickte Panibratowa auf der Basis des vom Bürgerkrieg gepeinigten Tadschikistans auf den „reichen Nachbarn“.

Der Rentner Wiebe hingegen verflucht noch heute Stalin und Hitler – er spaltet wuchtig Holz beim Ausrufen ihrer Namen –, weil die von ihnen entfesselte Politik ihm nicht nur den Bruder und den Vater nahm, sondern ihn selbst auch nach Kasachstan verfrachtete. Gerd Bauman, ein aus Rostock stammender Ingenieur, der diesen Abend durch seine Kantigkeit prägt, holt seinen Urgroßvater aus dem Giftschrank. Der Wehrmachtsoffizier wurde während des Zweiten Weltkriegs mit dem Ritterkreuz geehrt, weil er so vorzüglich den Dneprbogen hielt. Sich über Karten beugend, die das Gitternetz der Claims der Ölmultis auf kasachischem Territorium zeigen, erinnert der deutsche Techniker sich an den Vorfahren, der auf Landkarten derselben Region Frontlinien studierte. Dussalis Großvater, ein mit Orden behängter ehemaliger Rotarmist, benutzt in einem weiteren Videoeinspiel ein Stalinzitat und spricht vom „Kampf gegen den Faschismus, aber nicht gegen das deutsche Volk“. Er lobt, dass Russen und Kasachen jetzt in Deutschland unter Deutschen wohnen.

Zu seinem großen Glück ist „Bodenprobe Kasachstan“ mehr als Erinnerungswandzeitung und Reisebericht. Die fünf so verschiedenen Protagonisten verschmelzen beim zauberhaft umständlichen Bedienen einer durch die Lüfte schwebenden Kamera, deren Bewegung von vier Menschen an vier Seilen gelenkt wird und die jeweils einen fünften im Fokus hat, für kurze Momente zu einem harmonischen und authentischen Kollektiv. Mit seiner erprobten Land- und Themenerkundungsapparatur ist Kaegi mal wieder ein größerer Wurf gelungen.

■ HAU 2, 29. 4.–3. 5., 20 Uhr

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