BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Ich bin gesprächsbereit

Die Menschen müssen mehr miteinander reden. Am besten macht man selbst den ersten Schritt

Hört denn das niemals auf?! Dieses andauernde Jammern und Klagen über das fehlende Miteinander zwischen den Menschen. Mieter aus Vorder- und Hinterhäusern entsorgen ihre Hinterlassenschaften in den gleichen Tonnen, wissen aber außer den bevorzugten Joghurt- und Hundefuttermarken nichts von ihren Nachbarn. Mülltonne auf, Klappe zu. Männer und Frauen gehen in Selbsthilfegruppen und Kuschelkurse statt aufeinander zu. Ost und West beharren weiterhin darauf, sich ohnehin nicht zu verstehen. Und auch in der Europäischen Union kommen die Bürger nicht wirklich miteinander ins Gespräch. So kann das nicht weitergehen.

Ich beschloss, aktiv zu werden. Es war neulich an dem Sonntag, als mit viel Pomp, roten Teppichen und Fahnen die Gründung der Europäischen Union vor 50 Jahren in Berlin gefeiert wurde. Während Hunderttausende nur beim Verzehr von Spezialitäten der 27 Mitgliedsländer den Mund vollnahmen, saß ich mit meinem Berlinbesuch, einer Tante und einer Cousine, bei einem Flötenkonzert in dem herrlichen alten Spiegelsaal über dem Tanzlokal „Clärchens Ballhaus“. Wir lauschten andächtig einem Querflötenduo, das Stücke von Georg Philipp Telemann bei Kerzenschein spielte. Plötzlich merkte ich, dass mich jemand beobachtete.

Vorsichtig drehte ich mich um und sah einen Mann mit einer Baskenmütze auf dem Kopf und einem Zeichenblock vor sich auf dem Tisch. Der Unbekannte zeichnete mich. Ich war natürlich geschmeichelt und veränderte unauffällig meine Sitzposition, so dass mein Profil noch besser zur Geltung kam.

Statt mir den Kopf zu zerbrechen, wer dieser Mann ist, sagte ich zu meiner Tante, nachdem der letzte Flötenton verklungen war: „Wenn dieser Typ hier bei uns am Tisch vorbeiläuft, dann spreche ich ihn an.“ Er lief an unserem Tisch vorbei. Ich sprach ihn an. „Entschuldigung, junger Mann, dürften wir vielleicht einen Blick in Ihren Zeichenblock werfen?“ Wir durften. Weil der Zeichenblock recht groß und noch ein Stuhl an unserem Tisch frei war, lud ich ihn zu einem Wein ein. Der erste Schritt war getan.

Dann lief alles wie von selbst. Nach einem geografischen Ratespiel fanden wir heraus, dass der Mann, der sich als Nika vorstellte, aus Georgien stammt, der Kaukasusrepublik an der Grenze zwischen Europa und Asien. Wir erfuhren, dass er Künstler ist, der unter anderem mit Grenz- und Meilensteinen zwischen Deutschland und Frankreich längst ein Fachmann für grenzübergreifende Projekte ist. Wir tranken auf unser Kennenlernen und stießen auf Europa an.

Weil Deutschland seit Anfang des Jahres die EU-Ratspräsidentschaft innehat, beschlossen wir, Beitrittsverhandlungen mit Georgien aufzunehmen. Bei unseren diplomatischen Bemühungen war es sicher von Vorteil, dass beide Seiten das Erbe des real existierenden Sozialismus zu tragen haben. Da geteiltes Leid halbes Leid ist, tranken wir auf die Fortsetzung der Verhandlungen.

Nika, der vor kurzem von Saarbrücken nach Berlin gezogen ist, lud mich zu sich nach Hause ein. Tante und Cousine waren abgereist, so dass ich die weiteren Beitrittsgespräche alleine führen musste. Weil ich trinkfest bin, war das kein Problem. In Georgien, das muss man wissen, ist der Kult um den Wein geradezu grenzenlos. Das traditionelle Kreuz der georgischen orthodoxen Kirche besteht aus Weinreben, die Grabsteine der Nationalhelden haben die Form von Reben und Trauben. Mein Gastgeber hatte aus einem georgischen Spezialitätengeschäft am Stadtrand von Ostberlin einen Rotwein aus der Saperavitraube besorgt, ein guter Tropfen von tiefroter Farbe und kraftvoller Fruchtnote. Wir tranken uns den Beitritt schön.

Weitere Details wurden wenige Tage später bei einem Essen bei mir zu Hause besprochen, bei deutschem Riesling. Jetzt müssen wir uns sputen, um dem europäischen Staatengebilde weitere Impulse zu geben. Denn die Präsidentschaft Deutschlands endet in wenigen Monaten. An mir soll es nicht liegen. Ich bin gesprächsbereit.

Fragen zum Gespräch? kolumne@taz.de Samstag: Barbara Dribbusch GERÜCHTE