400 Spritzen

„Ein einziges Mahnmal“: Vor zwanzig Jahren starb die Leichtathletin Birgit Dressel an den Folgen von Doping

STUTTGART dpa/taz ■ Sie starb am Abend des 10. April 1987 in der Universitätsklinik Mainz. Die Siebenkämpferin Birgit Dressel, voll gepumpt mit über 100 Medikamenten und Präparaten, die sie in den Wochen und Monaten davor bekommen hatte, darunter auch Anabolika, konnten die Ärzte nicht mehr retten. Zwanzig Jahre ist das her. „Der Fall war ein einziges Mahnmal“, sagt Helmut Digel, der Vizepräsident des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF), angesichts der ungebrochenen Dopingmentalität.

Juristisch ist für den Tod der 26-jährigen Leichtathletin nie jemand belangt worden. Ihr Leibarzt, der berüchtigte Professor Armin Klümper aus Freiburg, hat später noch viele Weltmeister und Olympiasieger betreut. Heute lebt er in Südafrika. Thomas Kohlbacher, damals Lebensgefährte und Trainer von Dressel, inzwischen Lehrwart des Leichtathletik-Verbandes Rheinhessen, will sich zu dem traumatischen Ereignis nicht äußern.

Dressel galt als Hoffnung der bundesdeutschen Leichtathletik: Neunte war die gebürtige Bremerin bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles, Vierte bei der EM 1986 in Stuttgart. Am 4. Februar 1987 erzielte sie bei einem Stundenmehrkampf in Neuseeland mit 6.201 Punkten eine Weltbestleistung. Bei ihrer letzten Visite Ende Februar bei Klümper, so sagte dieser später aus, sei sie angeblich „eine kraftstrotzende, im höchsten Maße gesunde“ Athletin gewesen. Am 8. April humpelte Dressel im Training wegen Schmerzen im Lendenwirbelbereich aus dem Kugelstoßring. Sie suchte einen Orthopäden auf, der ihr die ersten Schmerzmittel verabreichte. Mit Verdacht auf Nierenkolik wurde sie in die Klinik eingewiesen, dann – wegen eines möglichen Wirbelsäulenschadens – in die Unfallchirurgie verlegt. Die Schmerzen wurden stärker. Am Ende ihres dreitätigen Martyriums färbten sich ihre Lippen und Fingernägel blau.

Ihr Herz raste. Sie erhielt eine Sauerstoffmaske und wurde auf die Intensivstation gebracht. Drei Stunden danach hörte ihr Herz auf zu schlagen. 24 Ärzte hatten vergeblich versucht, ihr Leben zu retten. „Sie ist vor Schmerzen gestorben“, sagte Kohlbacher. Für ihren Vater, den Bremer Reederei-Kaufmann Hermann Dressel, ist seine Tochter „ein Opfer der Pharmaindustrie“. Klümper spricht indes von einem „tragischen Fall“.

Der Mainzer Apotheker Horst Klehr, dem körperliche Veränderungen bei Dressel aufgefallen waren und der sie gewarnt hatte, erhielt von ihr die Antwort: „Heutzutage ist das alles reversibel.“ Ihrer Mutter hatte sie gesagt, dass „die Zehnkämpfer doppelt so viel schlucken“.

Im September 1987 veröffentlichte Der Spiegel das rechtsmedizinische Gutachten: ein „Dokument des Schreckens“. Die vielen Arzneimittel und Spritzen hatten Dressels Gelenke und innere Organe zerstört. Selbst an ihrem letzten Lebenstag, als die Mediziner eine Therapie nach der anderen begannen, musste ihr Körper noch einmal Dutzende von Medikamente aufnehmen.

Dressel soll auch das Anabolikum „Megagrisevit“ und „Stromba“ zur Leisterungssteigerung genommen haben. Letzteres, so der Heidelberger Antidopingkämpfer Werner Franke, sei ihr per Blankorezept von Klümper verschrieben worden. Klümper, der Dressel mindestens 400 Spritzen im Laufe der Zeit verpasst hatte, bestreitet dies.

Das Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen des Verdachts fahrlässiger Tötung wurde eingestellt. In dem von der Staatsanwaltschaft beauftragten Gutachten hieß es, die Vielfalt der eingenommenen Präparate sei „nicht mehr überschaubar und in ihren Wirkungen nicht abschätzbar“. Dressel starb an einem „komplexen toxisch-allergischen Geschehen“. Den behandelnden Ärzten sei ein fahrlässiges Verhalten nicht nachzuweisen, „da nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, welche möglichen Ursachen den Tod von Frau Dressel verursachten“.

„Der Fall ist damals nicht aufgearbeitet worden“, sagt Helmut Digel, der in jener Zeit seine Arbeit und damit auch seinen Kampf gegen Doping für den Deutschen Leichtathletik-Verband aufnahm. Bis heute bestehe bei den Athleten „eine viel zu große Bereitschaft, alle möglichen Medikamente zu nehmen“.