Die Macht des Zugangs

KUNST Jean-Pascal Flavien geht in der Galerie Esther Schipper spielerisch mit dem Genre der Wohnhausarchitektur um

VON JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

Jean-Pascal Flavien hat ein besonderes Gespür für Räume. Der in Berlin lebende französische Künstler entwickelt experimentelle Häuser, er produziert Zeichnungen, Modelle, Publikationen, Installationen, Performances und Filme. Bereits seine frühen Werke beziehen sich auf Architektur. Zwischen 1999 und 2002 entwarf er, damals in Los Angeles, um die 40 Häusermodelle. Dazu gehören Häuser mit akustischen Eigenschaften, andere nehmen Bezug auf Landschaftselemente wie Felsen oder sind so konstruiert, dass sich zwei separat wohnende Menschen in einem „Verbindungsraum“ immer wieder treffen, während es im „Maison de la nuit le jour“ (1999) tagsüber nie hell wird.

Inzwischen hat Flavien vier Häuser realisieren können: „viewer“ in Rio de Janeiro, „no drama house“ in Berlin, „two persons house“ in São Paulo und „breathing house“ in Pougues-les-Eaux. Für Flavien ist das Entwerfen und Bauen nicht das Privileg von Architekten. Mit seinen Raumexperimenten möchte er Türen aufstoßen, die bisher noch nicht geöffnet wurden. Seine Häuser besitzen, worauf die Titel verweisen, sehr spezifische Eigenschaften. Sie sind gebaute Fiktionen, deren ungewöhnliche Elemente neue räumliche Erfahrungen entstehen lassen.

Sein zuletzt erbautes „breathing house“ ist ein weißer Kubus, der im Park des Kunstvereins Pougues-les-Eaux auf einer blauen Bodenplatte mit 30 Quadratmetern Grundfläche errichtet wurde. Eine rote und weiße Schiebewand mit verschiedenen Öffnungen unterteilen das Haus in drei Bereiche. Je nach Position verändern die lückenhaften Wände das Gefüge der Durchlässigkeit im Inneren, aber auch in Bezug auf den Außenraum, so klafft zuweilen ein zugiger Spalt in der Hauswand. Diese wandelbare Form lässt das Haus „atmen“, dabei führt es eine räumliche Performance auf, die der Bewohner selbst steuern kann.

Die Metapher der Atmung symbolisierte aber auch den Austausch mit dem angrenzenden Kunstzentrum, wo 2012 eine mit dem Haus verbundene Ausstellung gezeigt wurde. Das Mobiliar des Hauses diente als Scharnier zwischen beiden Orten. Die von Flavien eingeladenen Hausbewohner – Künstler, Kritiker und Kuratoren – durften während ihres Aufenthalts die Möbel frei platzieren. So konnte es sein, dass zeitweilig nur ein Stuhl in der Hauptausstellungshalle zu sehen war oder eine Bewohnerin ihren Arbeitsplatz dorthin verlegte. Überhaupt brachte Flavien die Parameter dessen, was Kunst ist, subtil ins Wanken. Die Ausstellungsbesucher konnten tagsüber das Haus besichtigen, die Bewohner hatten keine eindeutige Rolle inne.

Die Idee der Passage zwischen zwei Orten greift Flavien in seiner Ausstellung bei Esther Schipper wieder auf. Als ein Echo von „breathing house“ hat er eine transitive Skulptur kreiert: Ulli, eine in Berlin lebende Lehrerin, verkörpert in ihrer Rolle als Kunstwerk die Bewohnerin. Zu bestimmten Zeiten wird sie anhand von Fotos und persönlichen Erzählungen von ihren Erfahrungen in dem Haus in Frankreich berichten. Dass das Wohnen in den Arbeiten von Flavien oft einen partizipierenden Betrachter mit einbezieht, macht vor allem eine Arbeit deutlich. „Ich mag es, wenn das Publikum die Macht des Zugangs hat“, sagt Flavien über zwei Lichtschalter, von denen der eine das Licht in der gesamten Ausstellung kontrolliert, während der andere zwei Radios gleichzeitig an- bzw. ausschaltet, sodass parallel Nachrichten und Musik laufen, ein Gemisch, das für den Sound eines Wohnraums steht.

Überhaupt soll der Galerieraum durch minimale Interventionen, blaue und gelbe Steckdosen und ein funktionierendes Waschbecken, Elemente aus dem „no drama house“, in einen Innenraum des Flavien’schen Hauskosmos verwandelt werden. Für seine „Kurzgeschichten-Häuser“ wiederum hat der Künstler nicht nur neue Hausmodelle entworfen, er liefert auch zu jedem eine passende Geschichte mit. Diese an Ballard geschulten Erzählungen lassen die surrealistisch anmutenden Häuser zu psychologischen Porträts ihrer Bewohner erscheinen. Man sollte sich unbedingt die Zeit nehmen, sie zu lesen.

■ Ab Freitag bei Esther Schipper, Schöneberger Ufer 65