Auf den letzten Metern

REFERENDUM Kurz vor der Volksabstimmung über Schottlands Unabhängigkeit ziehen beide Seiten noch einmal alle Register – ohne Rücksicht darauf, was das danach bedeutet

■ Das Referendum: Am Donnerstag stimmt Schottland mit Ja oder Nein über die Frage ab: „Should Scotland be an independent country?“ (Sollte Schottland ein unabhängiges Land sein?) Wahlberechtigt sind alle in Schottland lebenden Bürger Großbritanniens, der EU-Staaten und der Commonwealth-Staaten ab dem Alter von 16 Jahren.

■ Der Ablauf: Die Wahllokale sind von 7 bis 22 Uhr Ortszeit (8 bis 23 Uhr deutscher Zeit) geöffnet. Die Boxen mit den Stimmzetteln aus den 32 Stimmbezirken werden unmittelbar nach Schließung der Lokale gezählt und dann zur Überprüfung nach Edinburgh gebracht. Sobald ein Stimmbezirk ausgezählt ist, wird das Einzelergebnis bekannt gegeben. Das Endergebnis wird nach Auszählung aller 32 Stimmbezirke veröffentlicht. Damit wird Freitag zwischen 6.30 Uhr und 7.30 Uhr Ortszeit gerechnet.

■ Die Folgen: Sollte das Ja gewinnen, wird Schottlands Regionalregierung mit der britischen Regierung über die Modalitäten der Unabhängigkeit verhandeln. Sie hat bereits den 24. März 2016 als Unabhängigkeitstermin verkündet, aber das hängt wie alles andere vom Ausgang der Verhandlungen ab. Großbritannien wählt am 7. Mai 2015 ein neues Parlament, Schottland am 5. Mai 2016. Sollten die Verhandlungen bis daher zu keinem Ergebnis kommen und die aktuelle SNP-Regierung 2016 abgewählt werden, könnte möglicherweise alles wieder rückgängig gemacht werden.

VON RALF SOTSCHECK
UND DOMINIC JOHNSON

BERLIN taz | Die Stimmung ist angespannt. In den letzten Stunden vor dem Referendum über Schottlands Unabhängigkeit am Donnerstag haben beide Seiten noch mal alle Register gezogen. Dabei ging es nicht immer zivilisiert zu. So wurde Labour-Chef Ed Miliband, der nach Edinburgh gereist war, um der Nein-Seite den entscheidenden Push zu geben, in einem Einkaufszentrum als „Lügner“ beschimpft und musste seinen Rundgang abbrechen. Er hatte es lediglich geschafft, mit einer einzigen Person zu sprechen, und die war ein Tourist.

Laut letzten Umfragen liegen die Gegner der Unabhängigkeit um 2 bis 4 Prozentpunkte vorn. Der Wahlkampf war monatelang eher ruhig geblieben. Aus zwei Fernsehdebatten im Sommer zwischen Alex Salmond, dem Premierminister Schottlands und Befürworter einer Unabhängigkeit, und Alastair Darling, dem früheren britischen Labour-Finanzminister und Anführer der „Nein“-Kampagne, waren erst Darling und dann Salmond als Sieger hervorgegangen. Doch seit Ende August war der bis dahin stabile Vorsprung der Unabhängigkeitsgegner rapide geschmolzen. Am vorletzten Wochenende hatte eine Umfrage zum ersten Mal einen Vorsprung für die Unabhängigkeitsbefürworter ergeben.

Seitdem hatte der Wahlkampf deutlich Fahrt aufgenommen. Alle führenden Londoner Politiker – der konservative Premierminister David Cameron, der liberaldemokratische Vize Nick Clegg und Labour-Oppositionsführer Ed Miliband – waren mehrmals nach Schottland gereist, um persönlich für den Verbleib in Großbritannien zu werben.

Der letzte Labour-Premierminister Gordon Brown, von dem das Land seit seiner Wahlniederlage 2010 kaum mehr etwas gehört hatte, kehrte ebenfalls auf die politische Bühne zurück und legte detaillierte Pläne für eine vergrößerte Autonomie Schottlands im Falle eines „Nein“-Sieges vor.

Mit diversen Versprechungen, die Schottland unter anderem volle Steuerhoheit anbieten, wurde der Auftrieb der Unabhängigkeitsbefürworter in den Umfragen gestoppt. Beide Seiten liegen jetzt ungefähr gleich auf, mit leichtem Vorsprung für die Unabhängigkeitsgegner. Die führen auch in den Wettbüros.

Am Ende hat Salmond noch einmal kräftig für seine Vision eines unabhängigen Schottland geworben. „Lasst euch nicht erzählen, wir könnten das nicht schaffen“, schrieb der schottische Premierminister am Mittwoch in einem Brief an die schottische Nation. „Es geht darum, die Zukunft eures Landes in eure Hände zu nehmen. Lasst euch diese Möglichkeit nicht durch die Lappen gehen.“ Unabhängigkeitsbefürworter wollen am Wahltag mit Prozessionen und Aufmärschen ihre Anhänger an die Wahlurnen trommeln.

Beide Lager misstrauen einander zutiefst. Schon um die Formulierung der Referendumsfrage hatte es Streit gegeben, nachdem die SNP 2011 die schottischen Regionalwahlen gewann . Die schottische Regierung schlug zunächst als Frage vor: „Stimmen Sie zu, dass Schottland ein unabhängiges Land werden soll?“ Das sei eine Suggestivfrage, winkten die Gegner der Unabhängigkeit ab. So heißt es nun neutraler: „Meinen Sie, dass Schottland ein unabhängiges Land werden soll?“

Beide liegen ungefähr gleich auf, die Unabhängigkeitsgegner leicht vorn

Unabhängigkeitsgegner halten auch dies für eine Suggestivfrage. Sie bezweifeln auch die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der schottischen Regierung, für dieses Referendum das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre herabzusetzen in der berechtigten Hoffnung, dass junge Leute eher zum Ja tendieren.

Die Regierung Cameron hatte all das bei der Festlegung der Volksabstimmung vor zwei Jahren durchgewunken. Sie dachte, die Unabhängigkeit fände sowieso keine Mehrheit. Aus diesem Grund hatte sie auch die Möglichkeit ausgeschlagen, als dritte Option auf dem Wahlzettel eine vergrößere Autonomie – die sogenannte „Devo-Max“ – anzubieten. Der Schotte Salmond hatte das vorgeschlagen, sozusagen als Trostpreis für sich selbst für den Fall, dass die volle Unabhängigkeit durchfällt. Cameron glaubte damals, er könne durch ein einfaches „Ja oder Nein“ die Unabhängigkeitsträume ein für alle Mal begraben. Jetzt aber bietet er die vergrößerte Autonomie doch noch an, in Reaktion auf die jüngsten Umfragen.

Falls diese Taktik aufgeht und Salmond das Referendum verliert, werden Cameron, Miliband und Clegg ihre Versprechen erfüllen müssen, ohne dass dies bisher gründlich in Großbritannien politisch diskutiert worden ist. Die nächsten britischen Parlamentswahlen sind weniger als ein Dreivierteljahr entfernt – Anfang Mai 2015.