„Hamas versucht ein Tabu zu brechen“

Spätestens seit dem Geiselhandel im Januar 2004 hat Israel den Entführern eine klare Botschaft geschickt: Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Wir sind bereit, fast jeden Preis zu bezahlen, glaubt der Sicherheitsexperte Shmuel Bar

SHMUEL BAR hat an der Universität Tel Aviv im Fachbereich Nahost-Geschichte promoviert. Während seiner 30-jährigen nachrichtendienstlichen Tätigkeit konzentrierte er sich auf die Bereiche Forschung und Diplomatie, Sicherheit, radikaler Islam und Terror. Seit 2003 ist er Studiendirektor am Interdisziplinären Zentrum für Politik und Strategie in Herzlia.

taz: Herr Bar, Gilad Schalit befindet sich seit fast einem Jahr in Geiselhaft. Warum dauert es so lange, ihn zu befreien?

Shmuel Bar: Das muss man die Hamas fragen. Es ist nicht so, dass es eine Adresse für die Verhandlungen gibt. Es sind nicht die Geiselnehmer, die verhandeln. Israel hat zunächst mit dem palästinensischen Premierminister Ismail Hanijeh verhandelt, der aber keinen Einfluss auf den militärischen Flügel der Hamas hat. Später sprachen wir mit Chaled Meschal, Chef des Hamas-Politbüros in Damaskus, der schnell unter den Druck der libanesischen Hisbollah geriet.

Weil Hisbollah-Chef Nasrallah ein Gesamtpaket anstrebte, das die von ihm entführten zwei israelischen Soldaten umfassen würde?

Möglicherweise. In jedem Fall hat der Krieg Verhandlungen weiter verzögert. Danach kam es im Gaza-Streifen zu bürgerkriegsähnlichen Gefechten. Außerdem hat die Hamas die internen israelischen Entwicklungen sehr genau beobachtet und vielleicht darauf gehofft, bei einem schwachen Premierminister Ehud Olmert einen noch höheren Preis herausschlagen zu können.

Aber auch die israelische Regierung hat sich zunächst nicht sehr kooperativ gezeigt. Olmert lehnte anfangs Verhandlungen komplett ab. Hätte er damals nicht schon mehr Kompromissbereitschaft demonstrieren sollen?

Olmerts offizielle Ablehnung konnte niemand wirklich ernst nehmen. Spätestens seit dem Geiselhandel im Januar 2004 hat Israel den Entführern eine klare Botschaft geschickt: Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Wir sind bereit, fast jeden Preis zu bezahlen.

Der Handel 2004 war also ein Fehler?

Ohne Zweifel.

Ist die israelische Regierung dabei, einen weiteren Fehler zu begehen?

Das ist jetzt noch schwer zu sagen. Es ist interessant, was die Hamas macht. Der Fatah-Chef im Westjordanland Marwan Barghuti steht nicht auf der Liste, dafür aber eine Reihe von israelischen Arabern. Die Hamas versucht ein Tabu zu brechen, wenn sie israelische Staatsbürger auf die Liste der freizulassenden Inhaftierten schreibt. Ich halte es allerdings für möglich, dass die Hamas hier letztlich zum Verzicht bereit ist.

Vorläufig werden die Forderungen der Entführer immer unverschämter. Wenn sie anfangs nur von Frauen und Minderjährigen sprachen, dann ist jetzt von über 1.300 Gefangenen die Rede, darunter Schwerverbrecher.

Die ersten Forderungen kamen von den Entführern aus dem Gaza-Streifen, noch vor dem Krieg und bevor die Hisbollah und Teheran Druck auf die Hamas ausübten. Die Forderungen wuchsen, seit die Verhandlungen von der Exil-Hamas in Syrien geführt wurden. Interessant ist im Übrigen, dass zwischen der Hamas und der Hisbollah ein Wettbewerb besteht. Sollte Israel jetzt einen sehr hohen Preis für Schalit zahlen, könnte die Hisbollah versuchen, den Handel zu unterbinden, in dem sie ihrerseits Verhandlungen anbietet. Damit hätte Israel ein Problem. Unser Arsenal von Verhandlungsgut hat Grenzen.

Schon jetzt wird Kritik an dem unproportionalen Verhältnis laut. Droht der geplante Handel nicht kontraproduktiv zu sein?

Ganz sicher. Das liegt an der Natur der Sache. Hamas hat Geiseln genommen. Wir haben Leute verhaftet, die sich des Terrors schuldig gemacht haben. Wenn es Hamas gelingt, die Inhaftierten freizupressen, hat es einen Netto-Gewinn gemacht. Entscheidend ist dabei weniger die Zahl der Inhaftierten, sondern was die Leute, die auf freien Fuß kommen, repräsentieren. Wenn Attentäter oder die Planer von Terroranschlägen entlassen werden, dann ist das eine schwerwiegende Entscheidung.

Dann halten Sie die geplante Entlassung von Mördern für falsch?

Man hätte von vornherein eine klare Position einnehmen sollen, indem man eine Zahl nennt von Inhaftierten, die „kein Blut an den Händen haben“. Davon hätte man nicht abweichen dürfen. Ein Staat darf die eigene Sicherheit nicht aufgrund des Schicksals von Einzelnen gefährden. Bei allem Schmerz besteht doch die Frage, ob die Mörder, die jetzt freigelassen werden, nicht wieder losziehen. Ist der Mensch, der anschließend getötet wird, weniger wert?

Von den beiden seit Juli im Libanon festgehaltenen Soldaten hört man nichts mehr. Wie ist das zu interpretieren?

Zum einen finden derzeit keine Verhandlungen statt, zum anderen wissen wir nicht, ob die beiden noch am Leben sind. Die Hisbollah hat in der Vergangenheit Verhandlungen über die Auslieferung von Lebenden geführt, die tatsächlich längst gestorben waren. Bei den drei Soldaten, die im Oktober 2000 in Geiselhaft gefallen waren, wusste man bis zur Übergabe ihrer Leichen drei Jahre später nicht, ob man sie lebend oder tot bekommen würde. Sieht man sich das Auto an, das letzten Sommer von der Hisbollah angegriffen wurde, und die Blutmenge am Ort der Entführung, kann man davon ausgehen, dass die beiden Soldaten tot sind.

INTERVIEW: SUSANNE KNAUL