JAPAN UND CHINA VERSUCHEN, POLITISCHE NORMALITÄT ZU SIMULIEREN
: Auf der Flucht vor der Geschichte

Man muss kein Chinese sein, um Japans zynischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit zu beklagen. Gerade erst wählte die reiche Metropolen-Boheme von Tokio den ausgewiesenen Rassisten und Revisionisten Shintaro Ishihara zum dritten Mal ins Amt des Gouverneurs. Man stelle sich vor, Le Pen sei seinem Ausländerhass und seinem Antisemitismus treu geblieben und in Paris nach acht Jahren als Bürgermeister bestätigt worden!

Umso mutiger ist die Initiative des neuen japanischen Regierungschefs Shinzo Abe und seines chinesischen Amtskollegen Wen Jiabao, die Beziehungen beider Länder aus dem trüben Fahrwasser gegenseitiger Kriegsaufrechnungen zu entreißen. Nach Abes „Eisbrecherfahrt“ nach Peking im vergangenen Oktober besuchte Wen nun als erster chinesischer Regierungschef in sieben Jahren Japan. Wen ging in Tokio joggen, hielt eine Rede vor dem Parlament und demonstrierte eine politische Normalität, die es in Wirklichkeit nicht gibt.

Was die japanischen Medien an der Rede Wens interessierte, war im Grunde jedoch nur eines: Hält er uns schon wieder moralische Lektionen? Schon diese Art des Hinhörens verriet, wie stark sich der revisionistische Grundimpuls in der freien japanischen Öffentlichkeit durchgesetzt hat. Dabei weiß man, dass sich die parteigelenkte chinesische Öffentlichkeit umgekehrt noch viel leichter zum Japan-Bashing verführen ließe. Als der KP vor zwei Jahren für kurze Zeit die Diskurskontrolle entglitt, flogen im Nu Steine auf japanische Botschafts- und Firmengebäude in China.

Was den Regierungen in dieser Lage bleibt, ist gut gemeinter Voluntarismus und die Hoffnung, das die schwellende Handelsbilanz eines Tages doch die historischen Wunden heilt. Das ist nicht aussichtslos. So schnell wie die Wirtschaft in Asien wächst, so schnell können beide Länder im Klima- und Umweltschutz auftrumpfen. Ihren politischen Willen dazu haben Abe und Wen jetzt in Tokio bekundet. Dass sie dabei nicht auf die Geschichte zurückblicken, ist derzeit ihre einzige Chance, der selbstgerechten Stimmung auf beiden Seiten zu entkommen. GEORG BLUME