„Rote Revolution“ gegen Tayyip Erdogan

In der Türkei bringt eine nationalistische Massendemonstration gegen die mögliche Kandidatur des Regierungschefs Erdogan zum Amt des Staatspräsidenten viel mehr Menschen auf die Straße als erwartet. Der Protest geht weit über den Anlass hinaus

AUS ISTANBUL DILEK ZAPTCIOGLU

Das Massenblatt Hürriyet hatte die Demonstration im Vorfeld bewusst heruntergespielt. Eingeladen hatte die stramm nationalistische „Vereinigung zum Schutze des Atatürk’schen Gedankenguts“ in der türkischen Hauptstadt Ankara. Es ging um einen Protest gegen eine Kandidatur des „moderat islamistischen“ Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan für das höchste Amt der Republik. „Erdogan darf nicht Staatspräsident werden“, war die Devise. Der Organisator hoffte auf 100.000 Menschen.

Schließlich füllten über eine halbe, vielleicht auch eine ganze Million Menschen an einem strahlenden Samstag Ankaras Alleen und Plätze. Über 100.000 kamen mit Bussen und Bahnen angereist. „Der mächtigste Einspruch gegen Erdogan“, musste Hürriyet titeln. „Die rote Revolution“ hatte ihre Anstifter verdrängt. Die rote türkische Fahne, sonst von Militaristen und Ultranationalisten in Beschlag genommen, mutierte zum Symbol einer breiten Opposition.

„Ich bin sowohl gegen einen Militärputsch als auch gegen die Scharia“, fasste einer der jungen Teilnehmer seine Meinung zusammen. Der verarmte Mittelstand, das säkulare Beamtentum und die durch IWF-Politiken geschädigten Bauern waren stark vertreten. Zwei Drittel der Demonstranten waren weiblich.

Ihre Motivationen sind breit gestreut. Verarmung bei Wirtschaftswachstum und Börsenboom, die Behandlung der Türkei durch die EU, der Bürgerkrieg im Irak – „das Fass ist voll, tritt ab!“, riefen die Teilnehmer. Aber auch die Angst vieler Türkinnen, ihre durch die Republik erworbenen Rechte „schleichend“ zu verlieren, trieb sie auf die Straße.

„Der Marsch zum Mausoleum Atatürks steht für die Sehnsucht nach einer selbstbewussten, unabhängigen, wirtschaftlich und politisch erstarkten, friedlichen Türkei“, sagte der Publizist Ali Sirmen. Serdar Turgut, Chefredakteur von Aksam, schrieb: „Unsere kemalistische Republik missachtete die religiösen Gefühle des Volkes, sie ist tot. Die Türken wollen eine zweite Republik, die den Spagat zwischen Religion und Moderne schafft, und keinen Gottesstaat.“

Innerhalb von wenigen Tagen wurde Erdogan nun also vom Generalstabschef, vom amtierenden Präsidenten und von hunderttausenden Demonstranten ermahnt, nicht zu kandidieren. Gestern ließ er sich eine Tür offen: „Wir müssen noch unseren Parteivorstand dazu befragen“, sagte er vor seinem Abflug zur Messe nach Hannover.

In der Türkei wird der Präsident vom Parlament gewählt, und die Amtszeit des Amtsinhabers, Ahmet Necdet Sezer, läuft Mitte Mai ab. Bewerber um das Präsidentenamt können ihre Kandidatur von heute an einreichen. Die Anmeldefrist beträgt zehn Tage. Danach sind mindestens drei Wahlgänge vorgesehen.

Bei einer Kandidatur wäre Erdogans Sieg so gut wie sicher, denn seine AKP hält die absolute Mehrheit der Parlamentssitze – dank des Wahlsystems, denn sie bekam bei den Wahlen 2002 nur 36 Prozent der Stimmen. Aber am 4. November stehen ohnehin Neuwahlen zum Parlament an. Der Ökonom Mustafa Sönmez, Unterstützer der Demo in Ankara, sagt: „Der Präsident sollte nach den Wahlen durch ein neues Parlament gewählt werden.“

Die AKP mobilisiert vor allem die Vororte in den Großstädten und Zentralanatolien. Hier haben islamistische Bürgermeister durch die Verbannung von Kneipen in Rotlichtzonen außerhalb der Städte, durch den Bau von Moscheen, das Bild auf den Straßen verändert. Nach langer Koexistenz mit der islamistischen „Parallelgesellschaft“ haben die säkularen Türken jetzt Angst, dass das System kippt.

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