Oh, no

REFERENDUM Es ist entschieden. Die Schotten werden nicht unabhängig. Was sie werden, hängt nun von David Cameron ab

AUS EDINBURGH RALF SOTSCHECK

Vorübergehend keimte Hoffnung auf. Als das Ergebnis des Referendums über Schottlands Unabhängigkeit für den Wahlkreis Glasgow bekanntgegeben wurde, brach unter den rund hundert Menschen, die sich vor dem Parlamentsgebäude in Edinburgh versammelt hatten, Jubel aus. Schottlands größte Stadt hatte Ja zur Unabhängigkeit gesagt. Die Menge stimmte das Lied „Glasgow, we love you“ an, ein Dudelsackspieler blies sich die Lunge aus dem Leib, doch die Freude währte nur kurz. Bald darauf stand fest, dass Schottland bleibt, wo es ist: im Vereinigten Königreich. Beim Volksentscheid am Donnerstag stimmten 45 Prozent für die Unabhängigkeit, 55 Prozent waren dagegen.

Um fünf Uhr morgens Ortszeit räumte auch die stellvertretende Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon von der Scottish National Party (SNP) die Niederlage ein: „Es wird heute Nacht kein Ja geben. Wir sind zutiefst enttäuscht, aber ich bin auch begeistert von unserer Kampagne. 1,6 Millionen Menschen können nicht ignoriert werden. Es gibt offenbar großen Appetit auf Veränderungen. Was wir ganz sicher nicht erlebt haben, ist eine Bestätigung des Status quo.“

Ministerpräsident Alex Salmond fügte später hinzu, dass er das Ergebnis akzeptiere und erwarte, das andere das auch tun. Am Nachmittag erklärte er seinen Rücktritt, was in der britischen Presse gemeinhin erwartet worden war. Er werde sich aber nicht aus der Politik zurückziehen, sondern sich darauf konzentrieren, dass die Zusagen eingehalten werden, die der britische Premierminister David Cameron in letzter Sekunde gemacht hatte, um das drohende Ja im Referendum abzuwenden.

Salmonds Rücktritt war ein weiterer Schock für die Anhänger der Unabhängigkeit. Bei ihnen hatte sich schon recht früh Resignation breitgemacht. Viele waren in der Nacht nach Schließung der Wahllokale auf den Calton Hill in der Innenstadt Edinburghs geklettert und hatten sich in dichtem Nebel um die Ruine der Akropolis auf dem Gipfel versammelt, doch Partystimmung kam nicht auf.

Dafür hatte eine erste Hochrechnung gesorgt, die sich später als relativ akkurat herausstellte. „Mir geht es ja nicht schlecht“, sagte einer, „und wenn ich zu meinen Lebzeiten nie die Gelegenheit bekommen hätte, über die Unabhängigkeit abzustimmen, hätte ich das gar nicht vermisst. Aber nun hatte ich diese Gelegenheit, und sie wird nicht noch einmal kommen.“

Ein anderer machte die Einmischung aus dem Ausland für die Niederlage der Ja-Seite verantwortlich. „Zum Schluss bettelte auch noch Barack Obama um ein Nein“, sagte er. Die meisten waren überzeugt, dass die Angstmache der Unabhängigkeitsgegner am Ende den Ausschlag gegeben habe. Die Unsicherheit über Währung, Banken und die Finanzierung des Wohlfahrtsstaats habe viele vor einem Ja zurückschrecken lassen.

David Cameron, der eine Woche lang die schottische Flagge auf dem Dach seines Amtssitzes in der Downing Street hatte hissen lassen, trat erleichtert vor die Presse. Ein „Yes“ hätte sein persönliches Waterloo werden können. Er sagte, die Frage über Schottlands Unabhängigkeit sei für die nächste Generation geklärt. Aber er fügte hinzu, dass ab sofort Veränderungen im Vereinigten Königreich in Angriff genommen werden. Nicht nur sollen die Schotten mehr Macht bekommen, sondern auch die Waliser und Nordiren. Darüber hinaus will er auch die sogenannte West Lothian Question lösen: Künftig sollen sich die schottischen, walisischen und nordirischen Abgeordneten bei Entscheidungen, die allein England betreffen, nicht mehr einmischen dürfen.

Wie das konkret aussehen wird, soll ein Ausschuss bis November klären, schon im Januar soll das entsprechende Gesetz verabschiedet werden. Experten warnen, dass Cameron zuvor viele Hürden überwinden müsse – einmal in der eigenen Partei, in der viele ein föderales Königreich ablehnen, und zum anderen bei der Labour Party. Die hat ihre Hochburg im Norden und könnte ohne die Stimmen der schottischen Abgeordneten keine Entscheidungen, die England betreffen, gegen den Willen der Tories durchsetzen – auch wenn sie an der Regierung ist.

Die Wahlbeteiligung war mit 86 Prozent sehr hoch, in manchen Wahlkreisen lag sie über 90 Prozent, und selbst in Glasgow gingen immerhin 75 Prozent an die Wahlurne. Die seit 2011 in Schottland allein regierende SNP hatte in den Ghettos der größten schottischen Stadt erheblich Zeit investiert.

Die Partei hatte im Laufe der Jahre eine Datenbank aufgebaut, in der so gut wie jeder Wahlberechtigte mit seinen Vorlieben und politischen Ansichten verzeichnet ist. Darauf griff man zurück, und es gelang, Menschen an die Wahlurne zu bringen, die noch nie in ihrem Leben gewählt hatten. In Teilen von Shettleston, Castlemilk, Drumchapel und Easterhouse, den vier ärmsten Vierteln Glasgows, hatten in manchen Bezirken bei den letzten Wahlen nicht mehr als 11 Prozent ihre Stimme abgegeben.

Wozu auch? Keine Regierung hatte in den vergangenen 50 Jahren etwas daran geändert, dass in diesen Vierteln mehr als die Hälfte der Kinder in Armut lebt. Die Zahl der Menschen, die an den Suppenküchen anstehen, hat sich in den vergangenen drei Jahren verfünfzehntfacht. Seit die Tories die „Schlafzimmersteuer“ verhängt haben, ist die Wut auf Politiker noch gestiegen. Diese Steuer betrifft Leute in Sozialbauwohnungen, die über mehr Zimmer verfügen, als sie nach Ansicht der Behörden benötigen. So müssen sie entweder ausziehen, Untermieter aufnehmen oder zahlen. Besonders unsensibel gingen die Behörden mit einem Vater aus Easterhouse um, dessen schwerbehinderte Tochter gestorben war. Innerhalb weniger Tage wurde er zur Kasse gebeten, weil er ihr Zimmer ja nun nicht mehr brauchte. Es überrascht daher nicht, dass die ärmeren Schichten mehrheitlich Ja gestimmt haben, während die Nein-Stimmen vor allem aus den wohlhabenderen Schichten, von Menschen über 65 und von den Bewohnern der Grafschaften an der Grenze zu England kamen. Auch die Hauptstadt Edinburgh sowie die britische Ölhauptstadt Aberdeen sagten deutlich Nein.

Ein paar Schotten gab es allerdings, die in der Nacht nicht gebannt auf die Auszählung der Stimmen starrten. In Glasgow hatte sich ab Mitternacht eine lange Schlange gebildet – vor dem Apple Store. Die Leute wollten das neue iPhone ergattern.