Hemingway spricht im Bistro über Sex

CANNES CANNES 2 Woody Allens „Midnight in Paris“ ist eine Hommage an das Paris der zwanziger Jahre

Die Geschäfte an der Croisette machen neugierig auf die Abendroben, die man in den nächsten Tagen auf dem roten Teppich sehen wird. Bei Miu Miu hängen vier kurze, untaillierte, cremefarbene Kleider im Stil der neuen Sachlichkeit im Schaufenster, ihr einziger Schmuck sind silberne oder kupferfarbene Zylinder, die etwa drei Zentimeter messen und in regelmäßigen Reihen appliziert wurden. Beim Sitzen hinterlassen sie sicher schmerzhafte Abdrücke im Po; sie sind also eher ungeeignet für eine Gala im Grand Théâtre Lumière. Bei Prada bestehen die Gewänder gleich ganz aus Perlen. Bei Chanel findet sich eine hellrosa Fantasie aus Straußenfransen, auch sie erinnert in ihrer weder Brust noch Taille betonenden Linie an die zwanziger Jahre: eine Prise Nostalgie, die famos zum Eröffnungsfilm passt.

Und das nicht nur, weil eines der Kleider, die Marion Cotillard in Woody Allens romantischer Komödie „Midnight in Paris“ trägt, ein helles, reich mit Gold- und Silberfäden verziertes, geradewegs aus der Chanel-Vitrine stammen könnte. Mehr noch, der ganze Film handelt von einer Gegenwartsflucht; die Hauptfigur, der Schriftsteller Gil (Owen Wilson), kann sich vom Paris des Jahres 2010 ins Paris der Zwanziger versetzen und begegnet dort allen, die diese Zeit legendär machten: Ernest Hemingway trinkt Rotwein im Bistro, wobei er Vorträge über gute Literatur („Niemals werden Sie ein guter Schriftsteller sein, wenn Sie Ihre Angst vor dem Tod nicht überwinden“) und guten Sex hält („Lieben Sie so, dass Sie Ihre Angst vor dem Tod während des Aktes vergessen“). Picasso malt seine Geliebte Adriana (Marion Cotillard) als ein Wesen mit weit gespreizten Beinen vor hellblauem Grund, was wiederum Gertrude Stein dazu bringt, ihn der Vulgarität zu zeihen. Dalí übt am Bistrotisch Grandezza-Gesten, während Luis Buñuel ein dummes Gesicht macht, als Gil ihm den Plot zum Film „Der Würgeengel“ vorschlägt. Gil: „Machen Sie doch einen Film über ein Dinner, nach dessen Abschluss niemand den Raum verlassen kann.“ Buñuel: „Aber ich verstehe nicht! Warum gehen die Gäste nicht einfach durch die Tür?“

„Midnight in Paris“ ist eine Kinderfantasie: Wie wäre es, wenn man sich durch die Zeit bewegen könnte, wenn man so, wie man in ein Flugzeug steigt, um von Berlin nach Nizza zu fliegen, in einen Oldtimer stiege, der einen vor dem Haus Gertrude Steins entließe? Woody Allen hat Übung, wenn es gilt, klar voneinander abgetrennte Sphären zu vermischen. In „The Purple Rose of Cairo“ (1985) etwa konnte die von Mia Farrow gespielte Kinobesucherin in den Film eintreten, so wie Gil in „Midnight in Paris“ die Cabarets, Revuetheater und Surrealistenpartys der zwanziger Jahre besucht.

Auf der Gegenwartsebene macht es sich der Film ein wenig zu leicht. Das Schwelgen in den Reizen der Stadt hat nolens volens etwas von einem Reiseprospekt, und außerdem sind fast alle Nebenfiguren als Idioten angelegt, als spießige US-Amerikaner, die das Essen zu schwer und die Politik zu liberal finden. Nach wenigen Szenen ist klar, dass Gil und seine Verlobte Inez (Rachel McAdams) das Gegenteil eines Traumpaars sind, zumal sie einen Besserwisser namens Paul anhimmelt, der sogar der als Museumsführerin auftretenden Präsidentengattin Carla Bruni ins Wort fällt.

Wenn man dem Regisseur etwas anlasten kann, dann dies: dass er sich keinerlei Mühe gibt, seine Abneigung gegen die Nebenfiguren zu verbergen. Davon abgesehen, ist „Midnight in Paris“ ein hübsches Divertissement – für den Auftakt des Filmfestivals nicht das schlechteste.CRISTINA NORD