Die Dinge müssen sich ändern

DEUTSCHES THEATER Wie weit ist es von Gorkis „Kleinbürgern“ zu den Wutbürgern der Gegenwart? Sehr weit! Die Regisseurin Jette Steckel sucht in ihrer Inszenierung eine Abkürzung

Einmal sagt Tatjana: „Das Leben zerbricht die Menschen ohne Lärm, ohne Schreie … ohne Tränen … unmerklich“

VON CHRISTIAN RAKOW

Eine Lenin-Statue steht in der Bühnenmitte, mit zukunftsweisend ausgestrecktem Arm. Nur steht sie mit dem Rücken zu uns, schon in einiger Distanz. Möglich, dass wir an ihr vorbeigejoggt sind, im Lauf der jüngeren Geschichte. So schwinden uns die Menschenführer. Aber wir Kleinbürger, wir bleiben. Wenigstens sieht das die Regisseurin Jette Steckel im Deutschen Theater so.

Geballte Faust

Maxim Gorkis Dramenerstling „Kleinbürger“ von 1901 ist ein bissiges, unruhiges Milieuporträt. Im Hause des wohlhabenden Malermeisters Bessemjonow bröckelt der Familiensegen. „Wie gedenkt ihr zu leben“, herrscht der welke Patriarch seinen Nachwuchs an. Und die Kinder Tatjana und Pjotr, beide studierte Stubenhocker, haben viel Mürrisches und Gedankenstrotzendes vorzutragen. Nur eine Antwort haben sie nicht. Anders der Pflegesohn Nil. Der ist ein proletarischer Pfundskerl, der auf Worte auch Taten folgen lässt. Bei Jette Steckel springt er in Person von Felix Goeser mal eben locker zur Lenin-Statue hoch. Ja, die Zeit der geballten Faust wird kommen.

Heute ist sie selbstredend schon wieder vorbei. Weshalb Regieeinfälle wie dieser Sprung an Parteivaters Hosenzipfel durchaus als Politfolklore verbucht werden können. Überhaupt führt der Wille zum großen Gesellschaftskommentar an diesem Abend immer wieder in symbolische Überspanntheiten. Mit überzogenen Sprechweisen lässt Steckel die Intelligenzler eingangs karikieren (Natali Seelig als Tatjana; Ole Lagerpusch als Pjotr) und zieht ineffektive Welterklärer wie den Misanthropen Teterew (Peter Jordan) ins Lächerliche: „Komm, blas in den philosophischen Dudelsack!“ Freilich ist man in diesen Satiren ein gutes Stück entfernt von der Selbstzersetzung des Bürgertums, wie sie Stephan Kimmig unlängst ebenfalls im großen Haus des Deutschen Theaters mit Gorkis „Kinder der Sonne“ subtil vorführte.

Steckel ermahnt den materiell gut gestellten, aber politisch inaktiven Kleinbürger in uns: „Empört euch!“ Der Arbeiterheros Nil tritt an die Rampe, bittet alle aufzustehen und im Chor zur rufen: „Ich werde das nicht länger hinnehmen! Die Dinge müssen sich ändern!“ Gleichwohl liegt die Tragik dieser Inszenierung gemessen an ihrer politischen Ambition nicht in solchen Peinlichkeiten allein, sondern in ihrer ästhetischen Unausgewogenheit.

Denn tatsächlich gibt es grandiose Momente an diesem Abend, viele sogar. Sie entstehen in den Liebesverwicklungen innerhalb der Hausgemeinschaft und im sentimentalen Blick auf die Familie. Per Homevideo erinnern sich die Schauspieler privat an ihre eigene Jugendzeit.

Stark in der Liebe

Dann kommen live die großen Paarszenen, zumeist von gedämpfter Musik untermalt: Wichmanns Jelena und Lagerpuschs Pjotr geben ein hinreißend verwackeltes Liebesgeständnis. Lakonisch rechnet der Peter Jordan als Teterew dem Hausherrn Bessemjonow (Helmut Mooshammer) dessen Lebensbilanz vor: „Du bist die perfekte Verkörperung der Mittelmäßigkeit.“ Das alles ist packend, aber es fischt thematisch wie formal im Becken der kleinbürgerlichen Ästhetik. Es ist eine Ästhetik, die ein irgendwie Allgemeinmenschliches meint, ohne soziale oder politische Verortung.

Einmal sagt Tatjana: „Das Leben zerbricht die Menschen ohne Lärm, ohne Schreie … ohne Tränen … unmerklich.“ Das Leben, sagt sie, nicht die historische Situation. Das zunehmend zur Höchstform auflaufende DT-Ensemble weiß dieses Leben in den eindringlichsten Farben zu zeichnen, in seiner Tristesse und Tragikomik. Eigentlich stören da nur die Empörungsgesten einer Regie, die doch diesen kleinbürgerlichen Gefühlshaushalt auseinandernehmen wollte.

■ „Die Kleinbürger“, wieder am 14., 28. + 31. Mai im Deutschen Theater