Seid neugierig!

Bröckelnder Sozialstaat in Skandinavien, Feier des Privaten im Baltikum: Die vierte Ars Baltica Triennale, traditionell in Kiel gestartet, verfolgt ein ehrgeiziges Ziel: Die Themen der Medienkünstler zwischen Gdansk und Göteborg, Tallin und Turku auszuloten. Das Motto: „Don’t worry, be curious!“

„Dabei ist verzweiflungsbannende Neugier und Wissbegier zu bewahren, unter den gegebenen Umständen gar nicht so einfach“

von FRANK KEIL

Können die Bewohner der Hamburger Elbinsel Wilhelmsburg singen? Doch, doch, durchaus. Freudig gestimmt, tänzelt eine etwa 20-köpfige Gruppe vor Publikum auf dem Stübenplatz oder übt ganz für sich in den Räumen der Honigfabrik ihre Version eines Beschwerdechors, nach dem Konzept des sangesfreudigen Künstlerpaares Oliver Kochta-Kalleinen / Tellervo Kalleinen.

Ohne große Vorkenntnisse gemeinsam zu besingen, was einen stört, was einen aufregt, politisch oder rein persönlich, darum geht es, und die Wilhelmsburger machen das ganz ordentlich: „Mein Rasen wächst nicht mehr – die Tage sind zu kurz / die besten Filme laufen viel zu spät“.

Dann aber der europäische Vergleich! Es tritt an mit Akkordeon der Beschwerdechor aus St. Petersburg. Der aus Birmingham! Und erst recht der aus Helsinki. Da wird vielleicht geschmettert! Da erhebt sich ein gewaltiges Brausen, getragen von einer selbstverständlichen Inbrunst, die schon stimmlich allen Unmut über zu langsam arbeitende Computer (Birmingham) oder das Abholzen der Wälder durch die Papierindustrie (Helsinki) aufs Kraftvollste bündelt.

Wohl selten ist in letzter Zeit so deutlich gezeigt worden, wie trotz aller Bemühungen hierzulande, das kollektive Singen wiederzubeleben, am Ende doch eine grundsätzliche Verlegenheit und Schüchternheit bleibt.

Zu erfahren ist dies derzeit in der Stadtgalerie Kiel, wo die Kalleinens ihre bisherigen Beschwerdechöre sehr hübsch nacheinander via Videoprojektion dem Kunstfreund präsentieren. Es ist ihr Beitrag für die nunmehr vierte Ars Baltica Triennale der Fotokunst, die stets in der Fördestadt startet, bevor sie dann durch diverse Ostseezentren tourt. Aller vier Jahre findet diese statt und unternimmt dabei nichts Geringeres, als einerseits die inhaltlichen Schwerpunkte und Themen der Künstlerschaft zwischen Gdansk und Göteborg, zwischen Tallin und Turku auszuloten.

Andererseits gilt es, so etwas wie eine aktuelle, mentale Positionsbestimmung in den verschiedenen Ostseegesellschaften wenigstens zu versuchen. Nach und nach hat man sich dabei von der flachen, hinter Glas verborgenen Fotografie emanzipiert. Diesmal dominieren unter den insgesamt 20 künstlerischen Positionen endgültig Videoarbeiten, gefolgt von Installationen, denen gegenüber die wenigen klassischen Fotoarbeiten in ihrem Beharren auf der Konzentration komplexer Themen in dem einen Bild jedoch nach wie vor einen ganz eigenen Reiz entfalten.

Das übergreifendes Motto der Triennale: „Don’t worry, be curious!“. Dabei ist verzweiflungsbannende Neugier und Wissbegier zu bewahren, unter den gegebenen Umständen gar nicht so einfach: Auch in den skandinavischen Ländern obsiegt seit längerem der Rückzug staatlicher Agenturen und Sicherungssysteme auf Kosten des Einzelnen; es zeigt sich zugleich, dass das so beharrlich behauptete gelungene Zusammenleben verschiedener Kulturen im Detail oft nichts als eine gern beschaute Fassade war, die man nun umso beherzter einreißt.

Die Schwedin Petra Bauer hat für ihre Videoarbeit „Rana“ dazu eine Zeitungsspur verfolgt: der Fall eines 13-jährigen muslimischen Mädchens, nach islamischer Tradition mit einem 18-jährigen Libanesen verheiratet, der nach der Geburt der gemeinsamen Tochter inhaftiert wurde, was landesweit zu einem Synonym für das Scheitern der schwedischen Integrationspolitik wurde – ohne dass je jemand von den an der Debatte beteiligten Medien sowie der Anklage mit der jungen Frau selbst sprach.

In den postsowjetischen Gesellschaften wie etwa den baltischen, ist dagegen der Prozess des langsamen Ausdehnens privater Freiräume noch lange nicht abgeschlossen. Sehr schön belegt das die dokumentarisch angelegte Fotoarbeit „homo@lv“ des Letten Kaspars Goba anlässlich der staatlicherseits heftig attackierten Gay Pride Parade in Riga 2005 und 2006. Die Parade ist zu Ende, ein Schub der Toleranz ausgeblieben, die Paare halten sich in klassischen Posen aneinander fest: Identisch gekleidet, stehen sie mit ihren Hunden am Meer oder posieren einträchtig mit Pferden auf einer Koppel. Traditionelle Bilder privaten Glücks, die nach gesellschaftlicher Verankerung suchen.

Die Ausstellung „Don’t worry, be curious“ in der Stadtgalerie Kiel endet am 28.5.07. Weitere Informationen unter: www.kiel.de/kultur/stadtgalerie Zur Ausstellung ist im Revolver Verlag ein englischsprachiger Katalog erschienen.