Atemloses Warten auf ein Wunder

Seit fünf Jahren braucht Claudia Kotter eine neue Lunge. Weil sie am eigenen Leib erfährt, wie rar potenzielle Organspender sind, hat sie den Verein „Junge Helden“ gegründet. Der startet heute eine Infokampagne. Claudia Kotter kann nicht dabei sein

Jürgen Vogel und andere Schauspieler werben ab sofort in Kinos für Organspendeausweise. Die Kampagne wird vom Verein „Junge Helden“, der Deutschen Stiftung Organtransplantation (www.dso.de) und der Techniker Krankenkasse getragen. In den Kinos machen lebensgroße Aufsteller unter dem Motto „Nimm das Schicksal in die Hand“ auf das Thema aufmerksam. Laut DSO befürworten acht von zehn Deutschen Organspenden, aber nur jeder achte besitzt einen Ausweis. Derzeit warten rund 11.500 Patienten in Deutschland auf ein Organ. Transplantiert werden können Herz, Leber, Niere, Lunge und Bauchspeicheldrüse.

VON ERIK HEIER

Manchmal sagen Ärzte Sätze, auf die man sich nicht vorbereiten kann. An denen manche zerbrechen, wenn sie sie zum ersten Mal hören. Sätze von erbarmungsloser Konsequenz. „Wenn nicht, dann“-Sätze. Bei der jungen Frau, die so schmal aussieht, so zerbrechlich, lauten die Sätze ungefähr so: „Wenn nicht ganz schnell eine Spenderlunge für dich kommt, bist du in ein paar Tagen tot.“ Eine Ersatz für ihre eigene Lunge, die kaputt geht, immer weiter. Die nicht mehr heilen wird.

Die Ärzte haben solche Sätze mehrmals zu Claudia Kotter sagen müssen in den vergangenen fünf Jahren. Seit sie auf eine Organspende warten, auf eine passende Lunge hoffen muss. Man kann nicht sagen, sie hätte sich an diese Sätze gewöhnt. Niemand gewöhnt sich an den Gedanken, vielleicht bald nicht mehr zu sein. Kotter hat einmal über diese „unwirklichen Situationen“ gesagt: „Du kannst doch deinen Tod nicht anfangen zu planen.“

Jetzt ist sie wieder in der Charité, wie schon oft, seit einem halben Jahr bereits. Die Ärzte haben ihr wegen medizinischer Bedenken jegliche Pressearbeit für ihren Verein „Junge Helden“ verboten, obwohl der doch gerade eine neue Kampagne startet. Mit dem Verein will sie seit knapp vier Jahren vor allem junge Leute zum Nachdenken über Organspenden animieren. Diese sollen selbst eine Entscheidung darüber treffen und einen Organspenderausweise ausfüllen. Man kann darauf ja auch „Nein“ ankreuzen, der postmortalen Entnahme von Gewebe und Organen widersprechen. Dann wissen die Ärzte jedenfalls Bescheid. Die Angehörigen auch. Ihnen erspart das die Frage danach, wenn sie sonst eben gestellt werden müsste.

Der Autor dieses Textes hat Claudia Kotter bereits einige Male getroffen, zuletzt im vergangenen Oktober. Da war ihr Verein wieder einmal mit einer seiner ohne Zeigefingerheben und gravitätische Schwermut inszenierten Aktionen aufgefallen – einer Party im Bungalow-Club in Mitte. Wie üblich bei den „Jungen Helden“, kamen zahlreiche Schauspieler, Musiker und Moderatoren, um über Organspende zu reden. Man wurde von Til Schweiger in den Club eingelassen, nebenan plauderte Nora Tschirner in eine Fernsehkamera, an der Bar werkelte ihr MTV-Kollege Markus Kavka an Cocktails, die Beatsteaks legten auf, Jasmin Gerat und Claudia Kotters Cousine Loretta Stern wandelten durch die Menge.

Mittendrin saß Kotter, mit ihren 26 Jahren im besten Nachtlebenalter, eigentlich. Und sie redete, sie umarmte, sie strahlte. Ihre Augen schienen noch größer als sonst an diesem Abend. Man sah ihr kaum die Anstrengung an, die sie diese scheinbar so unbeschwerten Stunden kosteten. Oft aber zog sie sich für einige Minuten in einen ruhigen Raum zurück. Zu ihrem Sauerstoffgerät. Irgendwann sagte sie auch noch einige Worte zum Publikum. Dann winkte sie. Es sah nicht wie ein Abschied aus. Sondern wie ein „Bis bald!“ Wo die Zukunft so vage ist, wird die Gegenwart zum Anker der Wünsche.

Kurz darauf musste Kotter wieder in die Charité, Pneumologie, vierter Stock, immer dasselbe Zimmer, ihre rote Tagesdecke ist immer dabei. Nach Hause, in Prenzlauer Berg, wo sie mit ihrer jüngeren Schwester und ihrer Cousine lebt, konnte sie seitdem nicht mehr. Ihre ganze unbändige Energie, ihre Lebensfreude – eingezwängt in ein Klinikzimmer. Selbstmitleid lässt sie kaum zu. Und wenn, dann geht es eher um Dinge, die gesunden Menschen alltäglich erscheinen, zu klein für innige Wünsche. Einen Latte macchiato im Café. In Klamottenläden stöbern. Ins Stadion gehen. Einfach leben, ganz normal.

Über Bekannte erfährt man jetzt nicht viel über Claudia Kotter. Sie sei auf der Warteliste wieder auf „HU“ hochgestuft worden, für „high urgent“, Transplantation dringend erforderlich. Sie habe zwischenzeitlich ins Herzzentrum des Virchow-Klinikums verlegt werden müssen. Ihr Herz ist schwach, weil es ständig gegen die verhärtete Lunge anpumpen muss wie gegen eine Betonwand. Sie dürfe den dünnen Schlauch unter der Nase, der ihr Sauerstoff gibt, nicht ablegen. Und sie habe unlängst einen Termin bei „Maischberger“ absagen müssen, wo Babypausenfüller Frank Elstner eine Talkrunde über die Organspende-Problematik moderierte.

Das Thema ist heikel, wie jedes Thema, das den Tod berührt. In Umfragen sprechen sich rund 80 Prozent der Deutschen für Organspenden aus, aber gerade einmal 8 Prozent besitzen einen Spenderausweis. Zwar steigen die Zahlen der gespendeten Organe seit Jahren leicht. Für Berlin verzeichnete die Deutsche Stiftung Organspende einen Anstieg (Lebendspenden ausgenommen) von 148 im Jahr 2001 auf 260 im vergangenen Jahr. Die Transplantationen stiegen zwischen 2001 und 2004 von 401 auf 503, sie fielen dann 2006 wieder auf 459 Organe. Aber regelmäßig beklagen die Ärzte den Mangel an Organen. Rund 11.500 Menschen warten in Deutschland darauf, fünf Jahre verbringen sie durchschnittlich auf der Warteliste, jedes Jahr überleben das 1.000 nicht.

In der Talkshow von Johannes B. Kerner konnte Kotter vor einem guten Jahr noch auftreten. So wie sie auch, wenn es möglich ist, in Schulen spricht, an Universitäten oder vor der Ethikkommission des Bundestages. Man merkt ihr bei solchen Anlässen keinerlei Nervosität an. Keinerlei Herzflattern. Wie das so ist bei Seelenanliegen.

Die „Maischberger“-Absage muss ihr deshalb schwer gefallen sein. Sicherlich wäre sie auch gern im Olympiastadion gewesen, als ihre Lieblingsmannschaft Nummer zwei, Hertha BSC, von ihrer Lieblingsmannschaft Nummer eins, Mainz 05, eine 1:2-Heimniederlage eingeschenkt bekam. Geboren wurde sie zwar in Frankfurt am Main, aufgewachsen ist sie aber unter anderem in der ZDF- und Karnevalsmetropole am Rhein.

Und sie hätte natürlich auch gern bei der Präsentation der neuesten Kampagne ihrer „Jungen Helden“ mitgemacht, die der Verein heute in Zusammenarbeit mit der Techniker Krankenkasse, der Deutschen Stiftung Organtransplantation und der Kinokette Cinemaxx startet. Zehn Stellwände mit den Schauspielern Jürgen Vogel, Nora Tschirner und Loretta Stern werden bis zum Juli durch die Cinemaxx-Kinos touren. Man kann den lebensgroßen Figuren Organspendeausweise aus der Hand nehmen und einen Text über Organspende lesen. Motto: „Nimm das Schicksal in die Hand“. Aber die Ärzte haben ihr eben Ruhe verordnet. Strikte Schonung.

Claudia Kotter hat längst lernen müssen, auf die Signale ihres Körpers zu hören, der bei einer Größe von 1,69 nur 45 Kilogramm auf die Wage bringt. Ihr schmaler Brustkorb macht es so schwer, eine Spenderlunge für sie zu finden. Sie hat ihren Körper darauf getrimmt, mit so wenig Sauerstoff wie möglich auszukommen, es gibt dafür spezielle Trainingsmethoden. Aber wenig ist manchmal einfach nicht genug. Bislang ist es immer gut gegangen, manchmal noch gerade so. In der Charité sagen sie ihr deshalb: „Wir wissen ja, dass du ein Wunder bist. Aber wir wissen nicht, ob das Wunder immer funktioniert.“

Seit Claudia Kotter vier Jahre alt ist, wissen die Ärzte um ihre Krankheit. Mit 18 kam der erste große Zusammenbruch. Sie wollte trotzdem in den USA studieren. Bei einer Party in San Diego brach sie zusammen, hustete Blut, musste zurück nach Deutschland. Da war sie 21. Daheim sagte eine Ärztin ganz trocken einen dieser schrecklichen „Wenn nicht, dann“-Sätze: „Wenn Sie nicht in 24 Stunden eine Transplantation bekommen, gibt es keine Überlebenschance.“

Den Verein, das hat Kotter immer wieder gesagt, gründete sie im Juni 2003 zusammen mit ihren Freunden, weil sie nun – selbst betroffen – merkte, wie viele Ängste und wie wenig Wissen es beim Thema Organspende gibt. Der Verein sei nicht dafür da, ihr eine neue Lunge zu beschaffen. Aber es wäre zu schön, wenn es endlich klappte. Wer weiß schon um die Zähigkeit ihres täglichen Wunders? Alles ist vorbereitet für diesen Tag, eine Telefonkette wird die engsten Freunde und die Familie herbeirufen. Sie werden kommen, alle, egal wo sie gerade sind. Es ist ja schon passiert. Einmal. An einem Februartag des Jahres 2004.

An diesem Morgen ist der Himmel blau und voller Sonnenschein. Da erfährt sie, dass eine Spenderlunge da ist, endlich. Die Telefonkette setzt sich in Bewegung. Treffpunkt: Deutsches Herzzentrum Berlin. Jürgen Vogel, der ein ganz enger Freund von Kotter ist, dreht gerade in Hamburg „Keine Lieder über Liebe“, unterbricht sofort, fährt nach Berlin. Alles ist bereit für die Operation. Die Stimmung ist gelöst, fast heiter.

Doch dann stellen die Ärzte eine Verletzung in der Spenderlunge fest. Nichts zu machen. Und vom Himmel, der doch eben noch blau war, ein Himmel ohne Sorgen, rieseln Schneeflocken herab, mit einem Mal. In diesem Moment sagt ein Freund: „Du bist der einzige Mensch, der den Himmel zum Weinen bringt.“

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