„Die Ukraine ist stabiler, als es scheint“

Die Bevölkerung denkt demokratischer als Kiews politische Klasse, sagt der Leiter des Netzwerks ForumNetUkraine, Peter Hilkes. Neuwahlen würden wohl fair ablaufen – aber wohl kaum eine handlungsfähige Regierung hervorbringen

Der Ukraine-Spezialist Peter Hilkes leitet das Netzwerk ForumNetUkraine, das Veranstaltungen, Vorträge und Publikationen zur Ukraine organisiert und herausgibt und das Internetportal „forumNETukraine.org“ betreibt. Zudem ist er Lehrbeauftragter für ukrainische Landeskunde am Institut für Slawistik an der Universität München. 1999 und 2002 war er als Wahlbeobachter in der Ukraine, die er regelmäßig bereist.

taz: Herr Hilkes, das Verfassungsgericht der Ukraine sollte gestern darüber entscheiden, ob die Parlamentsauflösung von Präsident Juschtschenko rechtmäßig war. Es ist aber zu keinem Ergebnis gekommen. Wie soll es jetzt weitergehen?

Peter Hilkes: Das weiß derzeit wohl niemand, es herrscht eine Art Wahlkampfsituation. Dass das Verfassungsgericht nichts entscheiden würde, war absehbar. Die Richter sind sich zu uneins, um eine einheitliche Linie finden zu können. Es gibt zu viele offene Verfahrensfragen, und der Einfluss der Politik auf die Richter ist viel zu groß.

Kann man darum sagen, dass es in der Ukraine keine Fortschritte in Sachen Demokratisierung gegeben hat?

Nein, auf keinen Fall. Die Situation in der Ukraine ist viel solider, als es derzeit den Anschein hat. Die Bevölkerung ist in ihrem demokratischen Bewusstsein weiter als die politische Klasse in Kiew. Man muss die politischen Akteure von der Bevölkerung deutlich trennen. Auch außerhalb Kiews entwickelt sich langsam die Zivilgesellschaft, Verwaltungen öffnen sich den Bürgern, NGOs arbeiten erfolgreich. Das ist eine Graswurzelentwicklung, die nicht so im Fokus der Öffentlichkeit steht, aber sie findet statt. Die Demonstrationen der rivalisierenden Gruppen in Kiew – der „blauen“ der regierenden „Partei der Regionen“ und der „orangenen“, die den Präsidenten unterstützen – geben nicht die Stimmung im Land wieder.

Aber die Bevölkerung scheint doch stark polarisiert?

Nein, diese angebliche Spaltung, vor allem in einen Ost- und einen Westteil, ist in weiten Teilen Propaganda. Neben dem Osten und dem Westen des Landes hat die Zentralukraine mit Kiew politisch und wirtschaftlich eine bedeutsame Rolle, das wird oft unterschlagen. Es gibt natürlich große Unterschiede zwischen den Regionen, die historisch und ökonomisch begründet sind. Aber so tief, wie oft behauptet, sind die Gräben nicht. Eine Anbindung des Ostens an Russland ist für die dortigen Oligarchen keine Perspektive. In Russland ginge es ihnen viel schlechter als gegenwärtig in der Ukraine.

Die „Partei der Regionen“ des Regierungschefs Wiktor Janukowitsch führt derzeit die Umfragen an. Warum ist der Wahlfälscher von 2004 heute so beliebt?

Präsident Juschtschenko hat sich durch seinen Wankelmut diskreditiert. Außerdem ist seine Partei Nascha Ukraina von einer starken politischen Kraft gleichsam zu einem Hühnerhaufen mutiert. Zugleich hat sich Regierungschef Janukowitsch in der Darstellung nach außen gewandelt. Bei den Wahlen von 2004 ist er noch als Tölpel aufgetreten, dem die öffentliche Meinung völlig egal war. Dieser Tölpel ist er heute nicht mehr. Er spricht zum Beispiel auch im Fernsehen immer öfter ukrainisch. Das ist nur ein kleines Detail am Rande. Doch es zeigt, dass ihm seine Wirkung bei den Wählern inzwischen wichtig ist.

Demokrat ist Janukowitsch nicht geworden, Juschtschenkos Hausmacht ist zerstritten. Wer kann den demokratischen Wandel in der Ukraine tragen?

Tja, das ist schwierig. Von der politischen Klasse ist nicht viel zu erwarten. Die ukrainische Jeanne d’Arc, Julia Timoschenko, fällt aus, weil sie keine Machtbasis im Parlament hat, außerdem ist auch ihre Partei kein zuverlässiger politischer Faktor. Die politische Basis in Kiew ist immer noch viel zu eng – es trifft sich ein kleiner Kreis in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder neu. Daran hat sich seit 2004 leider nicht viel geändert.

Wie kann das Parlament demokratisiert werden?

Es kann sich nur selbst demokratisieren. Als Kompromiss aus der orangenen Revolution hat man die Macht des Parlaments gestärkt – in der Hoffnung, dass sich ein verlässlicher Parlamentarismus mit ukrainischer Prägung entwickelt. Das ist nicht passiert. Ursache sind die diversen Regierungswechsel. Außerdem sind all die notwendigen Reformen versandet: Die Bemühungen einer Verwaltungsreform, einer Justizreform und der Abbau von Korruption vom Beginn der Präsidentschaft von Juschtschenko sind fruchtlos geblieben. Heute blüht die Käuflichkeit von Abgeordneten fröhlich vor sich hin.

Sollte es Neuwahlen geben – würden die fair ablaufen?

Ich denke ja. Die Bevölkerung ist für Wahlfälschungen so sensibilisiert, dass eine Wiederholung von Fälschungen wie 2004 nicht stattfinden dürfte. Viel spannender wird es sein, ob aus den Wahlen eine handlungsfähige Regierung hervorgeht.

Wäre die Bevölkerung im Falle erneuter Wahlfälschungen noch einmal mobilisierbar?

Wenn es zu massiven Beeinträchtigungen kommt, kann ich mir Proteste sehr gut vorstellen. In welchem Ausmaß, das ist natürlich schwer zu sagen. Zum Glück sind Demonstrationen in der Ukraine immer noch leichter möglich als in Russland.

INTERVIEW: H. HOLDINGHAUSEN