Höhenluft ist sein einziges Doping

Autofahren und zu Hause Hocken macht nur müde und lethargisch, findet der passionierte Radler Heinrich Heß aus Rommerskirchen bei Köln. Der Wissenschaftler im „Frühruhestand“ macht ein Mal im Jahr eine größere Radtour

VON LUTZ DEBUS

Am liebsten fährt er Strecken, die bis über 2.000 Meter über dem Meeresspiegel reichen. An Flechten und Moosen und bunten Blumenteppichen vorbei. Einmal schon sah er ein Edelweiß am Straßenrand. Im Sommer sei es in den Alpen nicht so drückend und schwül, erklärt Heinrich Heß. An besonders harten und langen Steigungen schiebt er sein schwer bepacktes Tourenrad stundenlang bergauf. Und übernachtet dann ganz weit oben, wo die Luft dünn ist. „Dadurch bildet der Körper vermehrt rote Blutkörperchen. Ähnlich wie bei Jan Ullrich, nur völlig natürlich und legal“, schwärmt der hoch gewachsene Mann.

Der 58-Jährige macht ein Mal im Jahr eine größere Fahrradreise. Auch im Alltag bewegt er sich am liebsten mit dem Fahrrad, und sei es nur mal eben nach Leverkusen, Köln, Düsseldorf oder Aachen. Der promovierte Chemiker ist seit drei Jahren arbeitslos. Zuvor forschte er für ein namhaftes Chemieunternehmen. „Polyurethane“, das Wort geht ihm geschmeidig über die Lippen. Wenn Heß über seinen Werkstoff redet, merkt man ihm an, dass die Begeisterung für die Chemie geblieben ist. Seine Rezepturen waren zwar sehr gut, aber letztlich zu teuer, hatte man ihm gesagt. „Wir machen Ihnen ein faires Angebot.“ Mit diesem Satz seines Abteilungsleiters begann sein beruflicher Abschied im Werk. Nun bezeichnet er sich als Frühruheständler. In seinem Alter, so kurz vor der Rente, ist er sich sicher, sind die Aussichten, noch einmal als Chemiker arbeiten zu können, sehr gering. Ganz große Touren, auch durch andere Kontinente, vielleicht um irgendwann ein Reisetagebuch zu veröffentlichen, könnten Heinrich Heß reizen. Aber schon allein wegen seiner anderen Hobbys ist ihm dies kaum möglich. Er spielt in einem Orchester Violine, singt in zwei Chören, kümmert sich um seinen Garten.

Mit dem Fahrrad einfach wegzufahren, war schon als Student sein Traum. Dann hieß es aber erst einmal arbeiten, Familie gründen, Haus bauen. Vor 13 Jahren trennte sich seine Frau von ihm. Plötzlich saß er in einer Ein- Zimmer-Wohnung. Die Decke fiel ihm auf den Kopf. Und da erinnerte er sich an seinen alten Traum. Mitten im Winter, sogar durch den Schnee hindurch, reagierte er sich mit dem Rad ab. Zwar bewohnt er inzwischen ein kleines Haus in Rommerskirchen bei Köln. Aber auch nun, als Arbeitsloser, radelt er immer noch lieber, als nur zu Hause oder im Auto zu hocken. „Das macht nur lethargisch und müde.“ Und dies wiederum entspreche nicht seinem Naturell, sagt der ehemalige Wissenschaftler. „Ständig die frische Luft, da bleibt man wach.“ Gerade bei seinen großen Reisen ist er tagelang völlig euphorisch. Da passiert es mitunter, dass der Chemiker abends nicht müde wird, die Nacht durchradelt und nach dem Frühstück noch bis zum späten Nachmittag weiter fährt. „Erst am zweiten Abend spüre ich eine gewisse Müdigkeit.“ Eine klare laue Nacht habe auf dem Fahrrad ihren besonderen Reiz, berichtet Heß etwas geheimnisvoll. „Kennen Sie die Dichtung und die Musik der Romantik? Dann wissen Sie, was ich meine.“

Natürlich folgt er manchmal auch ganz praktischen Erwägungen, auf dem Rad die Nacht zum Tag zu machen. „Wenn die Gegend weniger reizvoll ist, fahre ich einfach weiter.“ Die Verpflegung ist zuweilen karg. Ölsardinen und Knäckebrot haben, so weiß der Wissenschaftler, mitunter den höchsten Nährwert, verglichen mit ihrem Volumen. So ernährt sich Heß schon mal tagelang davon, ergänzt durch frisches Obst und Energieriegel. Dann wieder genehmigt er sich ein leckeres Essen in einem Restaurant und eine Übernachtung in einem Hotel. Heinrich Heß reist meist allein mit seinem Fahrrad. Abends und unterwegs trifft er in Herbergen andere Radwanderer und Urlauber aus der ganzen Welt.

Heß betrachtet seine Fahrradreisen auch als Vortouren und Anregungen für spätere Reisen, nicht nur mit dem Fahrrad, möglichst zusammen mit jemandem, vielleicht mit einer neuen Lebensgefährtin. Als „poor lonesome Cowboy“, als einen Lucky Luke, der einsam in Richtung Sonnenuntergang reitet, sieht er sich jedenfalls nicht.