Arme ohne Gesicht

Vom Chef zum Sozialfall: Eine Krefelder Familie versteckt ihre Armut. Mitten in einem Eigenheimviertel lebt sie von Hartz IV. Für die Eltern scheint die Sonne nicht mehr, die fünf Kinder sollen es aber nicht merken. Die Nachbarn schon gar nicht, weshalb die Eltern tagsüber den Garten meiden. Zu Besuch bei der ehemaligen Mittelschicht Die Armut wächst. Sind wir noch zu retten? Am Montag startet die taz ihre Debattentournee durch Nordrhein-Westfalen

Im März 2007 lebten laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit in Nordrhein-Westfalen von rund 18,1 Millionen Einwohnern 1,2 Millionen Menschen von Arbeitslosengeld II und 490.000 als Nicht-Erwerbsfähige von Sozialgeld. Zur offiziellen Armut rechnen Sozialwissenschaftler eine hohe Dunkelziffer hinzu: Auf jeden registrierten Armen kommt ein verdeckter, der oder die keine Leistungen beantragt.

Besonders von Armut betroffen sind allein erziehende Frauen. 43 Prozent aller Mütter in dieser Lebenslage sind von Armut bedroht oder bereits betroffen, schreibt die damals noch rot-grüne Landesregierung im zur Zeit aktuellsten Sozialbericht des Landes aus 2003. Ebenfalls überdurchschnittlich betroffen sind Nicht-Deutsche (38,9 Prozent) und Kinder unter 18 (26 Prozent).

Grundlage dieser Zahlen ist das gewichtete Durchschnittseinkommen aller Einwohner und die anonymen Angaben aus dem Mikrozensus. Erhält jemand weniger als die Hälfte dieses Betrages – 2003 waren das 604 Euro – gilt er als gefährdet. In der Statistik des Arbeitsamtes ist die Armut etwas niedriger, weil nur Arme erfasst werden, die Leistungen beantragt haben. Doch auch hier stechen die Kinder heraus: 17,4 Prozent aller unter 15-jährigen erhalten in Nordrhein-Westfalen Sozialleistungen. MIB

VON MIRIAM BUNJES

Ein Einfamilienhaus aus rötlich braunem Backstein zwischen anderen Einfamilienhäusern aus dem gleichem Stein, ein kleines Stück Stadtteilfußgängerzone mit Apotheke und Supermarkt in Fußentfernung: Familie Lösch* wohnt in einem der besseren Stadtteile am Ortsrand von Krefeld. An die Hausfassade haben die Löschs eine selbst gemalte Sonne angebracht, auf dem Klingelschild aus Ton stehen unter dem Nachnamen sieben Vornamen.

Henning Lösch hat seine Ellenbogen zwischen die bunte Blumendekoration auf dem Esstisch abgestellt und sammelt Kraft. Er will die Armut fernhalten aus seiner Familie, deshalb will er den richtigen Familiennamen nicht in der Zeitung lesen und auf keinen Fall im kleinen Garten sitzen. „Die Nachbarn wissen nicht, dass wir eine Hartz-IV-Familie sind“, sagt der 54-Jährige. „Und sie sollen es auch nicht wissen.“

Das Geheimnis der Großfamilie ist inzwischen mehr als sieben Jahre alt. Seitdem fällt Henning Lösch das Leben schwer. Jeder Morgen beginnt mit einem Kampf. Henning Lösch hat Angst vor dem Tag. „Jeder Tag beginnt in einer schwarzen Kapsel, die ich am liebsten nicht verlassen will“, sagt er. Eine schwere Depression und ein Bandscheibenvorfall haben den gelernten Heilerziehungspfleger im Jahre 2000 berufsunfähig gemacht. „Damals haben wir die Sonnenseite des Lebens verlassen“, sagt Paula Lösch. „Jetzt kämpfen wir jeden Tag für sie.“

Die Sonne liebt die ganze Familie. Sie haben sie an viele Möbel gemalt, sind oft drei Mal im Jahr zu ihrer Finca ans spanische Mittelmeer gefahren. Henning Lösch war Leiter einer Tageseinrichtung für Behinderte, verdiente 4.200 Mark im Monat. Mehr als genug für eine Familie mit fünf Kindern, sagt Paula Lösch. Sie strahlt, als sie an „damals“ denkt. 600 Mark hat die gelernte Krankenschwester in einem Altenheim dazu verdient. „Mein Geld war für den Luxus“, sagt sie. Für Beim-Chinesen-Essen-Bestellen, für Für-Fünfzig-Mark-Eis-Spendieren, für Sauna, Sonnenbank, Kosmetika. Auch sie kann nicht mehr arbeiten, das schwere Heben in der Altenpflege hat ihren Rücken angegriffen. Beide kriegen eine Berufsunfähigkeitsrente: Henning 615 Euro monatlich, Paula 498, für den Rest kommt die Arbeitsgemeinschaft der Arbeitsagentur und des städtischen Sozialamts (ARGE) auf. 440 Euro sind das zur Zeit, bald werden es nur noch 220 sein, der Übergangsbonus vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II – Hartz IV – entfällt im nächsten Jahr. „Wenn wir alle Festkosten abziehen, bleiben uns 500 Euro zum Leben“, sagt Henning Lösch.

500 Euro für zwei Erwachsene und die jüngsten der fünf Kinder, die 15-jährige Lorena und den 17-jährigen Christian. Beide gehen noch zur Schule, Lorena will nach dem Fachabitur zur Polizei, Christian nach dem Vollabi sogar studieren. Die beiden ältesten Söhne leben nicht mehr zu Hause, beide haben Arbeit, vom Ältesten leiht sich Henning Lösch immer wieder Geld, wenn es gar nicht mehr geht. Die 20-jährige Julia wohnt zwar noch daheim, aber weil sie als Krankenschwester in der Ausbildung eigenes Geld verdient, zählt sie für die ARGE nicht zur Bedarfsgemeinschaft Lösch.

Mit diesem Einkommen gehören die Löschs zu einer wachsenden Minderheit in Nordrhein-Westfalen. Rund 1,2 Millionen Menschen in NRW leben von Hartz IV, dazu kommen zahllose Arme, die keine Leistung beantragt haben. „Aus Scham oder Unwissenheit“, sagt der Kölner Armutforscher Christoph Butterwegge. Fast 500.000 dieser Armen sind Kinder, gefährdet sind vor allem allein erziehende Mütter und kinderreiche Familien. „Das ist kein neues Phänomen“, sagt Butterwegge, „aber ein wachsendes.“ Er forscht vor allem über die armen Kinder. „Aber in den nächsten zwanzig Jahren werden immer mehr Menschen dazu kommen, die von ihrer Minirente nicht mehr leben können.“

Diese Armut bündelt sich. „Die Armen leben in Duisburg-Marxloh oder in Köln-Chorweiler und nicht im Westmünsterland“, sagt Butterwegge. „Deshalb vererbt sie sich auch.“ Vererbung – dieses Wort will der Soziologe nur in Anführungsstrichen lesen, weil es nicht genetisch gemeint ist, sondern sozial. Armutsadressen auf Bewerbungsschreiben führen zu Absagen, geballte soziale Probleme zur Perspektivlosigkeit. Nur darüber zu diskutieren, die Bildungschancen für sozial Benachteiligte zu verbessern, reicht da nicht, findet Butterwegge. „Bildung ist sehr wichtig, aber sie kaschiert in der deutschen Armutsdebatte die rein materielle Verteilungsgerechtigkeit. Ein Hartz-IV-Kind hat 2,07 Cent pro Tag zum Leben, die Aldi-Brüder haben 32 Milliarden Euro auf dem Konto. Trotzdem wird die Mehrwertsteuer erhöht und die betriebliche Erbschaftssteuer abgeschafft.“

Auch die Lösch‘sche Verteilungspolitik ist ungleich. „Die Kinder sollen unseren Kontostand nicht merken“, sagt Paula Lösch. Lorena kriegt deshalb für 135 Euro im Monat Mathe-Nachhilfe und Julia einen Zuschuss für ein zusätzliches Zimmer im Krankenschwester-Wohnheim, „damit sie sich da mit ihren Freundinnen zum Lernen zusammensetzen kann“. Die beiden Jüngsten kriegen auch Taschengeld, „Kinder brauchen das, wo kommen wir denn sonst hin“, sagt die 53-Jährige mit den Henna-roten Zöpfen. Und vor drei Wochen hat sie endlich mal wieder beim Chinesen um die Ecke bestellt, für 40 Euro. „Ich raste aus, wenn ich das mitkrieg‘, wir können uns das nicht leisten“, sagt ihr Mann. „Ohne Luxus“, entgegnet seine Frau, „da gehen wir alle ein.“

Sie will nicht, dass ihre Kinder sich schämen müssen. Wenn Schulfreunde nach Hause kommen, essen sie mit. Und wenn Klassenfahrten anstehen, füllt sie keine Sozialscheine mehr aus. „Vor allem Christian geht es schlecht, wenn er sie abgibt“, sagt sie. „Das will ich nicht, da finde ich lieber eine andere Lösung.“ Bei manch anderen Lösungen geht es auch Paula Lösch schlecht. Ein einziges Mal ist sie zur Krefelder Tafel gefahren, wo abgelaufene Lebensmittel an Bedürftige verteilt werden. In einer Schlange mit „dicken Müttern ohne BH, die aggressiv schreien“, stand sie für Essen an – „unerträglich, was ich da gesehen habe, da kann man auf keinen Fall Kinder mit hin nehmen.“ Auch Henning Lösch war ein paar Mal da, auch er fand es beklemmend. „So viele Säufer, da hab ich mich selbst sozial abgehängt gefühlt.“

Die Löschs haben ihre eigene Tafel eingerichtet. Eine Freundin, die in einem Supermarkt kassiert, sagt jeden Donnerstag Bescheid, wenn das Abgelaufene aussortiert wird. „Brot, Gemüse, Waschmittel, manchmal sogar Krabben oder Schokolade“ sind in den Tüten. „Wir kaufen nur noch ein bisschen Fleisch und Getränke dazu“, sagt Paula, „und können uns davon ganz gut ernähren.“

Diese Freundin ist eine der wenigen, die von der Armut wissen. Paulas Schwester und ihr Mann wissen Bescheid, das war‘s. „Mein Vater weiß, dass wir Rente kriegen, aber nicht, wie wenig das ist“, sagt Henning Lösch. „Wir wollen nicht, dass er sich Sorgen macht.“ Wenn wie vergangene Woche die Waschmaschine kaputt geht, bittet er seinen Sohn um Geld. Die ARGE hat ihm abgesagt. Für sowas hätte er Rücklagen zu bilden, ebenso für Schulbücher und Hausrenovierungen. Henning Lösch lacht bitter. „Wovon denn?“

Die Sorgen und das Mitleid anderer Menschen, das würde sie herunterziehen, glauben die Löschs. „Wir sind nicht sozial abgehängt, sondern nur materiell arm“, betont Paula. „Die Kinder sollen uns nie vorwerfen, wir hätten nicht alles für ihren Start ins Leben getan.“

Es ist 14 Uhr. Christian kommt aus der Schule. „Wenn der gewusst hätte, dass hier eine Journalistin sitzt, wäre er nicht gekommen“, sagt sein Vater. „Er hasst unsere Probleme.“ Christian, teure Baseballkappe und Markenturnschuhe, verschwindet schnell auf sein Zimmer. Lorena bleibt, trotz des Themas. „Mir fehlt nichts“, sagt sie. „Hausieren gehe ich nicht mit dem Einkommen meiner Eltern, wenn mich jemand fragt, stehe ich aber dazu.“ Wie ihre Mutter träumt sie oft von der spanischen Sonne. „In den Urlaub fahren wäre schön“, sagt sie. „Für alles andere reicht mein Taschengeld.“

Paula Lösch streicht ihr übers Haar. Ihr Alltag hat sich durch die Armut kaum geändert, „noch sind ja Kinder im Haus“. Sie kocht, putzt, bemüht sich dabei, so wenig Geld wie möglich auszugeben. Sie ist fast allein für die Erziehung verantwortlich, geht zu den Elternabenden, trifft alle Entscheidungen zu Kinderfragen.

Henning Lösch kämpft vor allem mit seinen psychischen Problemen. „Ich traue mir die kleinsten Kleinigkeiten nicht zu“, sagt er. „Es ist schon schwer für mich, einen Nagel in die Wand zu schlagen.“ Wenn Post von der ARGE kommt, kriegt er Schweißausbrüche. Alle drei Monate muss er von Neuem alle Daten über das noch nicht abbezahlte Haus und ihre Einkünfte in Seiten langen Bögen ausfüllen, „obwohl sich bei uns ohnehin nichts ändert“. Verdächtigt fühlt er sich dabei, verachtet wie ein Bittsteller, „dafür dass wir bald gerade mal 220 Euro zur Rente bekommen“. Ändern wird sich die Situation der Löschs wohl nicht mehr. „Es sieht nicht so aus, als könnte ich noch mal arbeiten“, sagt Henning Lösch. Und seine Frau: „Solange die Kinder da sind, machen wir so weiter, reißen uns zusammen und so. Sie sind das Ziel.“

Und danach? „Dann überdenken wir unsere Zukunft.“ In ihren kleinen Garten hat den ganzen Nachmittag die Sonne geschienen. Zwei Teenager fotografieren mit Digitalkamera ihre Mofa, einer von Löschs Nachbarn schrubbt seinen BMW, bis sich die Sonne darin spiegelt. Schatten ist in der Krefelder Backstein-Häuserreihe nicht vorgesehen. „Das ist ja auch Privatsache“, sagt Henning Lösch.

*Alle Namen wurden geändert