Beben neben Kastanienallee

Erst mit dem Kleinen kabbeln, dann mit den Jungs koksen? Tim Schwarz lässt in seinem Roman „90 Grad“ einen klassischen Mitte-Hipster zwischen zwei Welten verzweifeln

Was für eine schöne Idee eigentlich für einen Mitte-Hipster-Roman: ausgerechnet in Person der Nachbarskinder das große Sinnstiftungsdefizit in das Leben seines Protagonisten einbrechen zu lassen. Autor Tim Schwarz stellt in seinem Debüt „90 Grad“ einen Mittebewohner recht unvermittelt zwischen zwei Welten: das neue Jungfamilienglück auf der einen, die ewige Hipsteradoleszenz auf der anderen Seite. Vermittlung gibt es nicht. Man kann nur älter werden und irgendwann radikal das Lager wechseln. „90 Grad“ versucht sich in jemanden hineinzudenken, dem das nicht gelingt.

Da ist also Tom Ritter, Agenturangestellter mit Motivationsproblemen, der von seinem Chef in einen Zwangsurlaub geschickt wird und so für einige Wochen auf sich selbst zurückgeworfen ist. Ein Problem, wie sich rasch herausstellt, denn die Arbeit kann die Idiotien des Ausgehens nicht mehr ausgleichen. Ritter wohnt Off-Kastanienallee, wie man die Adressen in den Nebenstraßen dieser Tage so nennt. Und als ihn seine wunderschöne Nachbarin, eine junge Frau aus Estland, die den ganzen Tag schwermütige Filme guckt und dicke Bücher liest, fragt, ob er einen Nachmittag auf ihre Kinder aufpassen kann, ist es so weit: Ritter fängt an zu zweifeln. An sich und an seinen Freunden, einer Gruppe von oberflächlichen Koksnasen, mit denen er bisher immer um die Häuser gezogen ist. Ach ja: Für alle Szene-Touristen beeinhaltet das Buch extra einen Stadtplan, in den die entsprechenden In-Lokalitäten eingezeichnet sind. Tatsächlich sind die Charakterisierungen der meisten Läden im Roman auch einigermaßen akkurat.

So kann es kommen. Der ganze Ausgehthemenpark der Berliner Innenstadt baut ja auf der lebensstilistischen Illusion auf, dass die ungebundene Verantwortungslosigkeit und die mangelnde Nüchternheit einer durchgefeierten Nacht der Weisheit letzter Schluss sind – neben all ihren anderen Qualitäten sind teure Turnschuhe, rare Schallplatten, spezielle Klamotten und japanische Magazine die Kulissen für genau dieses Gefühl. Ein Fünfjähriger, der mit einem derlei Dingen Verfallenen Unfug machen will, kann nachhaltig für Erschütterung sorgen.

Das war es dann aber auch schon mit den guten Ideen – der Rest des Romans trägt nicht sonderlich weit. Da hilft es nichts, dass die schöne Nachbarin und ihre Familie christliche Fundamentalisten sind, die anfangen, Ritter mit in ihre Gottesdienste zu nehmen. Wenn sich man so eine Situation ins Buch holt, sollte man zumindest versuchen, ihr die angemessene Komik zu entlocken. Auch wäre es schön gewesen, einmal einen Berlin-Roman zu lesen, der auf das ewige Klischee des Besuchs der Eltern aus Westdeutschland verzichtet oder ihn zumindest modernisiert: Kaufen sich moderne Eltern, wenn ihr Kind nach Berlin zieht, nicht seit neuestem gleich eine Wohnung in Berlin, weil auch sie mitbekommen haben, wie sagenhaft das Berliner Nachtleben und die Kunstszene sind? Schrumpft nicht der Informations- und Coolnessvorsprung der Endzwanziger gegenüber den Endfünfzigern dramatisch? Hier zeichnen sich ganz neue Konflikte und Erzählungen ab, die man sich bei der Lektüre von „90 Grad“ leider selbst dazudenken muss. TOBIAS RAPP

Tim Schwarz: „90 Grad“. Seeliger Verlag, Wolfenbüttel 2007, 210 S., 17,90 €