Schock und schlimme Befürchtungen

Der Mord an den MitarbeiterInnen des christlichen Zirve-Verlags in der Türkei schürt die Angst vor einem gefährlichen Gemisch aus religiösem Fanatismus, Nationalismus und den vielen ungelösten politischen und sozialen Fragen der letzten Jahrzehnte

AUS ISTANBUL DILEK ZAPTCIOGLU

Dem Opfer unter Aussprechen eines religiösen Schwurs die Kehle durchzuschneiden, ist die Art der Metzger beim Opferfest oder der al-Qaida im Irak. In der Türkei hat das in früheren Jahren die brutalste islamistische Organisation Hizbullah praktiziert. Aber die jungen Männer, die am Mittwoch als Mörder der Mitarbeiter der christlichen Zirve-Verlags gefasst wurden, scheinen auf eigene Faust gehandelt zu haben. Dennoch ist der Ton in den Medien eindeutig: Das war ein von langer Hand geplanter Akt und hängt mit der Wahl des Staatspräsidenten zusammen. Das Land steht unter Schock und befürchtet Schlimmeres.

Die Täter sind geständig. Sie glaubten, dass diese Missionare „Agenten des Westens sind, die unser Land spalten und in einen Bruderkrieg stürzen“ wollen. „Wir haben das aus religiösen und nationalen Gefühlen heraus getan“, sagen sie in ihrer ersten Vernehmung. Sie waren zu fünft, zwischen 19 und 21 Jahre alt und bereiteten sich auf die Aufnahmeprüfung an der Universität vor. Sie bewohnten dasselbe Wohnheim und geben an, von dem schwer verletzten E. G. angestiftet worden zu sein. Als Einziger versuchte dieser durch einen Sprung aus dem Fenster zu fliehen – der „große Bruder“ als Bindeglied zu den Hintermännern?

Im selben Gebäude wie der christliche Verlag befindet sich die Zentrale der Cem-Vakfi, der alevitischen Stiftung. Christliche Mission hat unter Sunniten kaum Erfolg. „Wollten sie die alevitischen Kurden missionieren wie vor hundert Jahren die christlichen Missionare die Armenier?“, fragen Journalisten Anwohner. Dass der ermordete Deutsche Tilmann Geske vereidigter Dolmetscher war und „unter dem Vorwand, junge Studenten ins Ausland zu schicken“, missioniert habe, wird auf der Straße als „Hinterlist“ gedeutet. Ein User im Webforum des Nachrichtenkanals NTV: „Das alles steht unter dem Zeichen des großen Nahostprojekts der USA und der EU. Was die imperialistischen Großmächte mit Missionsarbeit bezweckten, steht in den Geschichtsbüchern.“

Der Priestermord in Trabzon am Schwarzen Meer, das Attentat auf Hrant Dink in Istanbul und jetzt der Mord an den Missionaren sind Glieder einer Kette, die nicht rein religiös, sondern hochpolitisch zu sein scheint. Dennoch haben die Täter mit ihrer Abschlachtungsmethode eindeutig religiöse Motive. Ministerpräsident Tayyip Erdogan, der in diesen Tagen nur zu gern zum Staatspräsidenten aufsteigen würde, spricht so, als ob all das seine „moderat islamische“ AKP eigentlich gar nichts angehen würde. „Die brutale Tat macht uns traurig, weil wir in einer verantwortlichen Position sind“, sagt er. Und deutet an, dass andere Mächte, die mit dem Islam nichts zu tun haben, das Land weiter polarisieren wollen, um seine Präsidentschaft zu verhindern. Die gesamte politische Klasse und Presse der Islamisten steigt darauf ein und erklärt, die Tat habe mit Religion nichts zu tun. Der liberale und des Nationalismus völlig unverdächtige Kolumnist Güneri Civaoglu holt sie aber heute in der Zeitung Vatan mit einem Federstrich herunter: „Wer in der Politik auf religiöse Gefühle spielte, kann jetzt ein Fest feiern.“ Ein blutiges Fest, so dass auch Außenminister Abdullah Gül eiligst betont, dass in „unserer religiösen Tradition so etwas keinen Platz hat“. Der islamistische Menschenrechtsverein Mazlumder mausert sich gar zum Verfechter der christlichen Mission: „Jeder muss weltweit seinen Glauben frei verkünden und verbreiten dürfen.“ Dabei hatte der für religiöse Belange zuständige Minister der AKP-Regierung noch vor kurzem eine Anfrage aus ihrer eigenen Fraktion über christliche Missionen ganz anders beantwortet: Die Mission in der Türkei ist keine reine Ausübung einer Religionsfreiheit, hatte er sinngemäß geschrieben, sondern „eine politische, durchgeplante Aktion“.

Die Türkei gleitet mit Hochgeschwindigkeit in die schwerste politische und soziale Krise seit über zwanzig Jahren. Die Angst wächst – vor einem Bürgerkrieg durch die ungelöste Kurdenfrage, vor einem Ausverkauf des Landes durch das „globale Kapital“, vor all dem, was in der ganzen Welt passiert und was man nicht versteht. Und die Angst isst die Seele auf. Offenbar finden sich immer neue junge Täter.

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