Staat mitschuldig an Kevins Tod

Untersuchungsausschuss hält individuelles Versagen, aber auch Sparpolitik für Gründe, warum der Zweijährige in staatlicher Obhut zu Tode kam. Ziehvater wegen Mordes angeklagt

Oktober 2004: Der zehn Monate alte Kevin wird mit Knochenbrüchen in eine Klinik eingewiesen. Juli 2005: Die Polizei berichtet von Auffälligkeiten. Sie treffen die Eltern betrunken an. November: Die Mutter stirbt. Das Kind kommt für drei Wochen in ein Heim. Ende April/Mai 2006: Vermutlicher Todeszeitpunkt von Kevin. September: Das Sozialzentrum übermittelt dem Amtsvormund, dass der Vater sich der angebotenen Hilfe entzieht. Es wird beschlossen, den Jungen aus der Familie zu nehmen. 10. Oktober: Polizisten finden Kevin tot in der Wohnung des Ziehvaters. DPA

aus Bremen EIKEN BRUHN

Wegen Mordes muss sich der Ziehvater des zu Tode geprügelten Kevin vor Gericht verantworten. Dies gab ein Sprecher der Bremer Staatsanwaltschaft gestern bekannt. Die Leiche des Zweijährigen war im Oktober 2006 im Kühlschrank des drogensüchtigen Bernd K. gefunden worden. Zu diesem Zeitpunkt war Kevin nach Überzeugung der Gerichtsmediziner schon seit Monaten tot.

Der parlamentarische Untersuchungsausschuss „Kindeswohl“ kommt in seinem gestern vorgestellten Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass die Umstände des Todes einen Einzelfall darstellen. „In hohem Maße“ heißt es da, sei der Tod Kevins „auf individuelles Fehlversagen mehrerer beteiligter Personen zurückzuführen“. Dazu zählt der Ausschuss an erster Stelle den Sachbearbeiter beim Jugendamt, der Kevin von Geburt an kannte und trotz überdeutlicher Hinweise auf Drogenmissbrauch und schwere Kindesmisshandlung das Kind bei seinem Ziehvater ließ – auch nachdem Kevins Mutter unter ungeklärten Umständen in der gemeinsamen Wohnung ums Leben gekommen war.

Verantwortlich seien aber auch die Vorgesetzten des Sachbearbeiters, stellt der Ausschuss fest. Diese waren bis hin zum Leiter des Amtes für Soziale Dienste über den Fall informiert gewesen. Der Grund: Der Leiter des Kinderheims, in dem Kevin vorübergehend untergebracht war, hatte die Sozialsenatorin um Hilfe gebeten, weil er sich um das Wohl des Jungen sorgte. Die Vorgesetzten hätten sich nicht auf die Aussagen des Sachbearbeiters verlassen dürfen: Der beteuerte stets, Kevin gehe es gut – auch dann noch, als der Junge vermutlich längst tot war. Die Leiche wurde entdeckt, als das Jugendamt ihn mit Polizeihilfe aus der elterlichen Wohnung holen wollte.

Im Untersuchungsausschuss konnte der Sachbearbeiter nicht befragt werden, denn er ist seit Monaten krank geschrieben. In Einlassungen gegenüber der Staatsanwaltschaft, die im Bericht zitiert werden, verteidigte er aber seine Entscheidungen. Unter anderem habe er Kevin nicht ins Heim geben wollen, weil das Ambiente dort so unpersönlich sei. Eine „Schwierigkeit im Umgang mit Kritik“ bescheinigt dem Mann nun der Ausschuss in seinem Bericht.

Durch Kevins Tod sind Missstände im Bremer Jugendhilfesystem deutlich geworden: Aufgrund hohen Spardrucks sei Sozialarbeit zunehmend von Kosten und nicht fachlichen Überlegungen bestimmt worden, sagte der Ausschuss-Vorsitzende Helmut Pflugradt (CDU). „Dafür sind wir als Politiker verantwortlich“, ergänzte SPD-Obmann Herman Kleen. Er forderte eine Umkehr in der Sozialpolitik. Klaus Möhle von den Grünen, die den Untersuchungsausschuss verlangt hatten, attestierte ein „komplettes Staats- und Regierungsversagen“. Allerdings habe die große Koalition im Untersuchungsausschuss ein hohes Aufklärungsinteresse gezeigt.

Die drei Abgeordneten appellierten an die Parteien, sich in der nächsten Legislaturperiode auf parlamentarischer Ebene mit der Situation von Kindern und Familien in Bremen auseinanderzusetzen.

Ob der Ziehvater schuldfähig ist, muss im Prozess geklärt werden, eine psychiatrische Untersuchung lehnt er ab. Ermittlungen laufen außerdem gegen den Sachbearbeiter sowie den Amtsvormund, der das Sorgerecht hatte. Politische Verantwortung hatte die damalige Sozialsenatorin Karin Röpke übernommen: Einen Tag nach dem Fund der Leiche trat sie zurück.