Katastrophen der Vernunft

OPERNPREMIEREN Die Deutsche Oper versucht mit der Erinnerung an Auschwitz französische Salonmusik aufzupolieren, die Komische Oper führt vor, warum Mozart seine frühe Oper „Idomeneo“ für seine beste hielt

Zum Glück gibt es in Berlin bekanntlich mehrere Opernhäuser

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Ein einsamer, leiser Hornton eröffnet eine Aufführung an der Deutschen Oper, die mit einem handfesten politischen Skandal endet. Denn es gibt Bilder, deren Bedeutung feststeht. Wer sie im Theater verwendet, muss wissen, was er tut, und möglich ist es nur, wenn sowohl das Stück wie auch die Inszenierung ihnen gerecht werden. Zu diesen Bildern gehören die Gleise, die nach Auschwitz führen. Es ist wahrscheinlich möglich, Komödien über Auschwitz zu schreiben, aber es ist nicht möglich, das Bild dieser Gleise zu zitieren, nur um einer müden alten Oper auf die Beine zu helfen, die mit dem Verbrechen von Auschwitz rein gar nichts zu tun hat, weder thematisch noch zeitgeschichtlich.

Camille Saint-Saëns, 1835 in Paris geboren, war ein hochgebildeter Intellektueller, kümmerte sich um Werkausgaben von Gluck und Rameau, aber nur wenige seiner eigenen Kompositionen haben ihre Zeit überlebt, darunter die Oper „Samson und Dalila“.

Jahrelang mühte Saint-Saëns sich ab mit diesem Stoff aus dem Alten Testament und nur auf Zureden von Franz Liszt, der ihm eine Uraufführung in Weimar versprach, brachte er das Stück zu Ende – man merkt ihm noch heute an, dass es kein Geniestreich war, der da unbedingt zur Welt kommen musste. Es gibt schöne Stellen, auf die man aber lange warten muss in einem gefällig instrumentierten, völlig undramatisch dahinschreitenden gepflegten Stück Kunstgewerbe.

In Koproduktion mit der Oper von Genf hat die Deutsche Oper den Kostüm- und Bühnenbilder Patrick Kinmonth beauftragt, einen Wiederbelebungsversuch zu unternehmen. Kinmonth hat ein bisschen in den Geschichtsbüchern geblättert und dort fand er, dass das besser ausgebaute deutsche Eisenbahnnetz entscheidend war für den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. „Samson und Dalila“ wurde 1877 uraufgeführt, in Deutschland, handelt auch irgendwie vom Krieg, dazu zwischen Israeliten (Juden) und Philistern, und weil ihm so gar nichts sonst einfiel zu den handelnden Figuren und ihrem Gesang, blieben die Schienen übrig, Das Programmheft raunt etwas von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Gleich drei Schienenstränge führen von der Rampe ins namenlose Dunkel der Bühne. Der Chor nimmt den einsamen Hornton auf: „Dieu“, singt das Volk der Israeliten, geknechtet von den Philistern, aber schon bald befreit von Samson. Seltsamerweise residiert er in einem überaus dekorativen Salonwagen, der am Bahnhof wartet. Im zweiten Akt liegen die Geleise im freien Feld, höchst realistisch überwuchert von struppigem Gras, auf einem Draisinenwägelchen wartet Dalila auf den Geliebten, im dritten Akt sind wir wieder im Bahnhof, an dem nun die unvermeidlichen Güterwaggons aus dem 20. Jahrhundert anrollen. Samson ruft seinen Gott noch einmal um Hilfe, die feiernden Philister entkleiden sich bis auf die Unterwäsche, bereit zum Abtransport. Das Licht geht aus, und ein paar verzweifelte Buhrufe zeugen davon, dass selbst beim Premierenpublikum der Deutschen Oper mit einem Rest von politischem Bewusstsein zu rechnen ist. Ja doch, es wird sehr schön gesungen auf dieser Bühne, und unter dem jungen Franzosen Alain Altinoglu kommt das Orchester ganz ordentlich mit dieser Salonmusik zurecht, aber ganz gleich, wie man das Schlussbild deuten will, das wörtlich genommen sagen würde, dass der Jude Samson seine Feinde nach Auschwitz schickt: Es geht auf keinen Fall, weil man von Auschwitz reden muss, wenn man Auschwitz zitiert. Alles andere erfüllt den Straftatbestand der Verharmlosung. Dass Patrick Kinmonth wahrscheinlich keine Absicht zu unterstellen ist, macht es nur noch schlimmer, denn die Bewusstlosigkeit ist der Skandal. Sex sells, Auschwitz auch.

Zum Glück gibt es in Berlin bekanntlich mehrere Opernhäuser. Am Samstag hat Benedikt von Peter seine Inszenierung von Mozarts „Idomeneo“ vorgestellt. Wiederbelebungsversuche sind in diesem Fall überflüssig, Mozart selbst hielt diese Oper für seine beste, und in der Komischen Oper ist mit dem wunderbaren Patrick Lange am Pult zu hören, warum. Nie wieder hatte Mozart eine solch intensive Dramatik erreicht. Auch Benedikt von Peters Bühne ist meistens dunkel und bevölkert von Chor und Statisten. Es ist das Volk von Kreta, in den Alltagskleidern von heute, das mitleidender Zeuge eines grausam archaischen Rituals und der Auflehnung dagegen im Namen einer aufgeklärten Vernunft wird. Natürlich fällt auch Auschwitz unter dieses Generalthema der Menschenwürde, man muss es nicht herbeizitieren, um zu verstehen, mit welcher Leidenschaft Mozart seinen Protest geradezu herausschreit. Liebe ist besser als Hass und Krieg, und Götter, die vom Vater verlangen, den eigenen Sohn zu schlachten, sind wider die Natur.

Von Peter hatte den Mut, gleich zwei Nebenrollen zu streichen, um diese Botschaft so gegenwärtig wie möglich zu vermitteln. Nur vier Menschen handeln allein auf sich gestellt aus, wie sie ihrem Schicksal der Herkunft, Trojaner oder Grieche, und ihren Göttern entkommen. Dem Prinzen Idamantes (Carolina Gumos) und der trojanischen Kriegsgefangenen Ilia (Brigitte Geller) gelingt es, weil sich selbst Poseidon von ihrer Liebe milde stimmen lässt. Elektra, die Muttermörderin auf der Flucht, scheitert. Mit einer furchterregenden Arie beschwört Erika Roos die Geister der Unterwelt, bevor der Chor das neue Königspaar feiert. Rainer Trost, der entmachtete König Idomeneo, schreit entsetzt auf, weil er diese Furie des Hasses noch immer dastehen seht unter dem Volk, das wahrscheinlich nur kurze Zeit sein Glück feiern kann …