Vom Bau einer Notbrücke

Das Private wird politisch, das Politische zur Erinnerung, und Biografien werden zu Material – Karolina Millers aus drei verschiedenen Bildquellen zusammengefügte Fotogeschichten aus Szczecin

Ich habe extra nach scheinbar misslungenen Bildern gesucht

VON JAN STERNBERG

Karolina Miller baut sich eine Notbrücke. Zwischen ihrer eigenen Geschichte, dem Polen in der Ära des Sozialismus und ihrer Heimatstadt Szczecin (Stettin) in der heutigen, holprigen europäischen Zeit. Die 32-jährige Fotografin kombiniert Bilder, meistens drei nebeneinander, knüpft Beziehungen zwischen ihnen und baut sich so eine Welt, in der das Private politisch ist, das Politische aber Erinnerung geworden ist und sich Biografien mit Fiktionen mischen. Sie nutzt dafür dreierlei: Familienbilder aus der Fotokiste ihrer Mutter, die Früchte langer Wühlarbeit in diversen Stettiner Archiven, Bilder des Fotografen Zbigniew Ryngwelski und eigene Aufnahmen aus dem heutigen Polen.

Die solcherart verkuppelten Bilder geben ihre Geschichten meist erst auf den zweiten oder dritten Blick frei. Karolina Miller verweigert sich auch den einfachen Erklärungen – welche Aufnahme aus welcher Quelle stammt, lässt sie offen, die möglichen Beziehungen zwischen den Personen und Ereignissen auf den Bildern sollen im Blick des Betrachters entstehen. Doch im persönlichen Gespräch erzählt sie gerne und lebhaft, welche Assoziationen ihr beim Zusammenfügen in den Kopf kamen. Auf einem Bild halten links zwei kleine Mädchen in Volkstracht einen Kunstdruck in die Kamera. In der Mitte steht an einer Straßenecke in einem Stadtviertel mit unrenovierten Altbauten ein Stapel Milchkästen. Rechts ist ein halb abgerissenes Wahlplakat neueren Datums zu sehen: „Kaczyński, starker Präsident, ehrliches Polen“ steht darauf. „Die Milchflaschen sind eine Erinnerung an meine Kindheit“, erklärt Karolina Miller. „Sie gibt es heute nicht mehr, sie gelten als Teil einer rückschrittlichen Lebensform. Und solch ein Wahlslogan klingt für mich ebenso rückschrittlich, das ist eine Sprache, wie sie der ehemalige Parteichef Gomulka in den 60er-Jahren benutzt hätte.“ Und wer sind die Mädchen auf dem linken Bild? „Das sind meine Schwester und ich“, erzählt die Fotografin. Die privaten Aufnahmen öffnen Türen zu anderen Geschichten. Auf dem Foto stehen die Schwestern in einer Neubauwohnung vor einem Bett. „Mein Vater hat es gebaut. Oben schlief meine Schwester, und unten, in einem ausziehbaren Kasten, schlief ich. Kurz nachdem dieses Foto entstand, sind wir in eine größere Wohnung in der Altstadt gezogen.“ Und zwar in einen Altbau direkt an der Straße zur Stettiner Werft. Dort lieferten sich 1981 regelmäßig Arbeiter Straßenschlachten mit der bewaffneten Miliz – im Winter des Jahres verhängte General Jaruzelski das Kriegsrecht über Polen. Die sechsjährige Karolina und ihre Schwester hatten ihr Kinderzimmer zur Straße hinaus. „Wenn unten ein Demonstrationszug vorbeikam, bat uns unsere Mutter, laut zu singen. Damit mein Vater nicht hört, was unten passiert und sich den Demonstranten anschließt. Davor hatte unsere Mutter Angst.“ Eine Arbeit zeigt links ein Bild eines solchen Demonstrationszuges, in der Mitte Karolinas Schwester, die Mikadostäbchen wirft, und rechts eine Parade von Turnerinnen aus sozialistischer Zeit. Eine Kombination von Erinnerung, Bewegung und Propaganda. Doch die Turnerin auf dem rechten Bild schaut missmutig, nicht zukunftsfroh, wie es auf einem solchen Bild zu erwarten gewesen wäre. „Ich habe extra nach scheinbar misslungenen Bildern gesucht“, erklärt die Absolventin der Berliner Ostkreuzschule für Fotografie, „auch die Familienbilder sind nicht die guten aus dem Album meiner Mutter, sondern stammen aus einer Schachtel. Dorthin hat sie die Fotos gelegt, die nicht perfekt waren.“ Ihre Bilder sollen auch die Geschichte unerfüllter Hoffnungen erzählen. Die Ehe der Eltern scheiterte, wie ihre eigene. Seit sieben Jahren lebt Karolina Miller nun in Berlin. Hier merkte sie, wie nah ihre alte und ihre neue Heimat zusammenhängen. Historische Déjà-vus inklusive, die ihr die deutsche Vergangenheit Stettins und seine enge Verbindung zur Metropole Berlin vor Augen führten: „Das Treppenhaus meiner ersten Wohnung im Friedrichshain sah genauso aus wie unseres in Szczecin, bis ins letzte Detail.“ Die Bilder unter dem Titel „Abschied von S.“ sind ein Rückblick, nicht im Zorn, aber dennoch mit Wehmut. Eine Bilderserie zeigt die Ruine eines Hauses, ihre unglücklich schauende Mutter mit rot-weißem Blumenstrauß am Tag des 15. Hochzeitsjubiläums und ihr eigenes Hochzeitskleid im leer geräumten Schlafzimmer der frisch geschiedenen Eltern – drapiert auf dem alten Ehebett. Die Serie ist Karolina Millers Abschied von Polen, der sich schleichend vollzog und ihr erst mit der Wahl der Kaczyńskis 2005 bewusst wurde. Seither, sagt die Fotografin, fühlt sie sich in Berlin „wie im Exil“. An ihrer Brücke baut sie dennoch weiter: Die Ausstellung wird nach der Berliner Präsentation auf der polnischen Fotobiennale in Poznań gezeigt.

Karolina Miller: „Abschied von S.“. Bis 10. 5., Di.–Sa. 14–18 Uhr, Otto-Nagel-Galerie, Seestr. 49, Wedding