Proteste laufen aus dem Ruder

AFGHANISTAN Vor einem Außenposten der Bundeswehr in der nordafghanischen Provinz Tachar sind bei Protesten gegen einen Nato-Einsatz zwölf Zivilisten erschossen worden

Ob auch Bundeswehrsoldaten auf Demonstranten geschossen haben, ist noch unklar

AUS KABUL THOMAS RUTTIG
UND OBAID ALI

Die Kette von Zwischenfällen bei Operationen der Nato-Truppen in Afghanistan, bei denen Zivilisten getötet werden, reißt nicht ab. Und die Reaktionen empörter Afghanen werden zunehmend gewalttätig. Am Dienstag kam es in Talokan, der Hauptstadt der nordafghanischen Provinz Tachar an der Grenze zu Tadschikistan, in der es auch eine Außenstelle des deutschen Provinzaufbauteams mit 20 bis 25 Soldaten gibt, zu Protesten. Diese liefen aus dem Ruder. Afghanische Journalisten vor Ort, mit denen die taz sprach, berichteten von anfangs 2.000 Demonstranten. Die Menge sei auf 15.000 angewachsen, darunter viele Schüler, die zum Teil bewaffnet gewesen seien und Geschäfte und Autos demoliert hätten. Dabei seien Handgranaten über die Einfriedung des deutschen Stützpunktes geworfen und zwei deutsche Soldaten und drei afghanische Wachleute verletzt worden.

Die afghanische Polizei, die am Morgen eingriff, habe zwölf Demonstranten erschossen und etwa 100 verletzt. Afghanischen Augenzeugen zufolge seien dann auch deutsche Soldaten aus dem Camp herausgekommen. Unklar blieb, ob sie auch geschossen haben. Eine entsprechende Anfrage richtete der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele am Mittwoch an die Bundesregierung. Sie wird in der nächsten Fragestunde im Bundestag in der kommenden Woche behandelt.

Nachdem es erste Todesopfer gab, hätten Angehörige weitere Einwohner mobilisiert. Die afghanischen Reporter berichteten zudem, dass am Mittag deutsche und afghanische Soldaten aus Kundus als Verstärkung in Talokan eingetroffen seien. Den Protesten vorausgegangen war eine nächtliche Zugriffsaktion von Isaf-Soldaten, bei denen es sich wahrscheinlich um US-Sondereinheiten handelte. Dabei seien im nahe gelegenen Dorf Kaumali drei Mitglieder einer Familie sowie ein Gast getötet und zwei weitere Männer festgenommen worden. US-Einheiten hatten unter der neuen Obama-Strategie für Afghanistan ihre sogenannten Night Raids gegen Taliban-Kommandeure, auch als „Kill or capture“-Aktionen bekannt, landesweit erheblich ausgedehnt. Im März fanden nach US-Angaben in ganz Afghanistan 293 solche Operationen statt, wobei 75 „Feinde“ getötet und 521 festgenommen worden seien.

In Afghanistans Norden gibt es zahlreiche bewaffnete Gruppen, die mit örtlichen Mini-Warlords verbunden sind und derzeit als afghanische Lokalpolizei für den Kampf gegen die Taliban remobilisiert werden. Die dortige starke paschtunische Minderheit betrachtet die Taliban oft als Schutzpatrone gegen die Warlords, die überwiegend der nichtpaschtunischen Mehrheit – Tadschiken und Usbeken – angehören und für Übergriffe wie Landraub und illegale Steuererhebung bekannt sind.