„Sprache funktioniert heute anders“

Der Sprachtest ‚Delfin4‘ offenbart einen gewissen Kulturpessimismus, sagt der Sprachwissenschaftler Fred Bertz

FRED BERTZ, 57, ist Diplom-Psychologe und Dozent am Institut für allgemeine Sprachwissenschaft der Universität Münster

taz: Herr Bertz, bei der Sprachstandserhebung ‚Delfin4‘ stehen mindestens 43 Prozent der untersuchten Kinder im Verdacht, über keine altersgemäße Sprachentwicklung zu verfügen. Ein alarmierendes Ergebnis?

Fred Bertz: Nein. Das sind faule Zahlen. Nach meinem Eindruck wurde vielmehr das Testverfahren schlecht vorbereitet. Kindersprache zu protokollieren ist eine Aufgabe, die man lernen muss.

Also ist der Test nicht kindgerecht?

Offenbar sind die Leute, die den Test durchführen, ganz schlecht vorbereitet worden. In früheren, durchaus vergleichbaren Untersuchungen zum ‚Bielefelder Screening‘ sind die Befragenden wochenlang geschult worden. Bei der aktuellen, von der Universität Dortmund betreuten Studie wurden Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer einfach losgeschickt. Auch bleiben die Kriterien des aktuellen Tests völlig unklar – dabei hat die Öffentlichkeit ein Recht zu erfahren, warum wie gewertet wurde.

Aber generell wächst doch die Zahl der Kinder mit Sprachschwierigkeiten?

Ich kenne diese Klage, aus der ein gewisser Kulturpessimismus spricht. Sprache sieht heute anders aus, als sich das Bewahrer der Goethe-Ära vorstellen – aber sie funktioniert. Allerdings scheint es so zu sein, dass die Fähigkeit zu dialogischer Kommunikation abnimmt. Dies ist eine Folge von zu viel Fernseh- und Computerkonsum: Streiten und aushandeln wird nicht mehr gelernt.

Nordrhein-Westfalens CDU-Schulministerin Barbara Sommer hat schon vorab prognostiziert, dass besonders Kinder aus Einwandererfamilien zusätzliche Sprachförderung nötig hätten.

Kinder mit Migrationshintergrund verfügen oft über eine bewundernswerte Zweisprachigkeit. Deutsch sprechen sie oft sogar mit den entsprechenden regionalen Dialekten – im Ruhrgebiet wie in der Region Hannover.

Auch bei Kindern aus benachteiligten deutschen Familien befürchten manche besondere Sprachdefizite. Zu recht?

Verwahrlosung lässt sich nicht in erster Linie sprachlich messen. Wir Linguisten sprechen von so genannten ‚Soziolekten‘, von gruppenspezifischen Sprachen. Diese werden aber erst zum Problem, wenn Kinder nur ihren einen eigenen Soziolekt sprechen. Wer aus seinem Ghetto nicht herauskommt, ist benachteiligt, gerade wenn man ihm das anhört. Denn das mittelständische Milieu beherrscht nun einmal mehrere Soziolekte: die Mittelschicht spricht beim Behördenbesuch auch anders als beim Bier.

Sind die aktuellen Sprachstandserhebungen also in erster Linie ideologisch motiviert?

Ideologie spielt sicher eine Rolle. Aber die Grundidee, die Startchancen gerade benachteiligter Kinder in der Schule zu erhöhen, ist löblich – und dazu ist ein gutes Sprachverständnis Grundvoraussetzung.

INTERVIEW: A. WYPUTTA