: Von der Logik der Gegenwart
Mit etwas Tempo liest sich Hegel wie von selbst. Was am Ende rauskommt, ist die Frage DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER
Man begegnet immer wieder einer gewissen, manchmal sogar lächelnden Herablassung unserem Beruf gegenüber. Anmaßend seien wir Journalisten und parasitär sowieso. Der Journalismus, bevorzugter Zufluchtsort für mitteilungsbedürftige Halbgebildete mit ausgeprägtem Selbstdarstellungsbedürfnis. Können keine richtigen Bücher schreiben, darum schreiben sie Artikel. Können auch nicht richtig denken, deshalb schreiben sie Kommentare. Oder Kolumnen. Erinnern wir uns also aus gegebenem Anlass eines besonderen Falls, da ein Journalist ein Buch veröffentlichte. Es war kein besonders wichtiger Journalist und auch keine besonders wichtige Zeitung, die er redigierte. Es war die Bamberger Zeitung. Auch hat das Buch, das der Journalist drucken ließ, lange Zeit kein Mensch bemerkt. Und als man es dann doch bemerkte, hat es niemand verstanden. Das ist bis heute im Grunde so geblieben. Vor genau zweihundert Jahren erschien Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Phänomenologie des Geistes“.
Das erkennende Subjekt – und sich durch (Selbst)-Erkenntnis zugleich erschaffende Subjekt! – hier ist der Weltgeist. Also gewissermaßen Gott. Das ging gegen Kant, der Gott unlängst aus dem Verkehr gezogen hatte als seriösen Gegenstand des Wissens. Dann mache ich Gott eben ganz klein, dass ihn keiner erkennt, dachte Hegel. Darum darf Gott bei Hegel auch nicht als Gott anfangen zu denken, sondern als die ärmste Gestalt des Bewusstseins überhaupt, als „sinnliche Gewissheit“. Diese müsste aber wahnsinnig werden an sich selbst, dürfte sie nicht bald „Wahrnehmung“ werden. Manche halten die „Phänomenologie“ für das schwierigste Werk der Philosophiegeschichte, dabei wollte Hegel ein ganz einfaches Buch schreiben für jedermann. Er hat schon mal die Absätze weggelassen, damit keiner unterwegs einfach abbricht. Außerdem macht das Bewusstsein auch keine Pausen. Es wird – immer schon welthaltig – bald „Selbstbewusstsein“ und auf der Reise zu sich auch noch naturgeschichtliches und Geschichtsbewusstsein, um ganz zum Ende beim „absoluten Geist“ (Religion, absolutes Wissen) anzukommen.
Entscheidend ist die richtige Lesetechnik. Man muss die „Phänomenologie des Geistes“ nämlich ganz anders lesen als etwa Kants Kritiken. Nicht jedes Wort einzeln, sondern im Tempo bleiben! Die Assistenz einer Flasche Rotwein kann nicht schaden. Dann liest sich das irgendwann von ganz allein, und die unfehlbare Wirkung einer jeden Hegel-Lektüre stellt sich ein: die Mit-Gottwerdung des Lesers.
Das ist das Schöne bei Hegel: dieses Gefühl, es geht nichts verloren – aufs Ganze gesehen. Und die Opfer des Einzelnen sind unbedingt sinnvoll für die Wohlfahrt des Ganzen. Darum hat Hegel auch so einen Schrecken bekommen, als er Schillers „Wallenstein“ las, da gab es die „Phänomenologie“ noch gar nicht. Der „Wallenstein“ ist ein antihegelsches Stück schlechthin. Ein einziger Abgrund!
Im Jahr des zweihundertsten Geburtstags der „Phänomenologie“ hat sich Peter Stein ausgerechnet „Wallenstein“ ausgesucht. Peter Stein ist jener Regisseur, der es als Angriff auf die Werktreue empfindet, einem Text ein Komma zu krümmen, weshalb er ungefähr so inszeniert, wie Hegel die „Phänomenologie“ schrieb. Ohne Punkt und Komma. Zuletzt hatte er das in Berlin beim „Faust“ ausprobiert. Zum ersten Mal in der Geschichte vollständig, mit all den Szenen, die Goethe garantiert selber weggelassen hätte, hätte er inszenieren müssen, was er geschrieben hat.
Und nun bringt Stein den ganzen „Wallenstein“ auf die Bühne, alle drei Teile auf einmal. Im Mai ist Premiere. Das Theater soll nur zehn Stunden dauern, bei „Faust“ war es fast eine Woche. „Bühne“ ist aber ein irreführendes Wort – der Zehn-Stunden-„Wallenstein“ findet in Berlin-Neukölln statt, in einer Halle, in der bis eben noch „Berliner Kindl“ gebraut wurde. Und nun sitzt da auf dem verlassenen Brauereihof Klaus Maria Brandauer in der Sonne. Brandauer ist Wallenstein, jener Feldherr, der Hegel so sehr erschreckt hat. So ein Riesenmensch, der die ganze Welt einreißt. Völlig sinnfrei. Schiller, eigentlich doch ein Kantianer mit Hang zum Höheren, hat sich dann auch sehr über seine eigene Trilogie erschrocken und musste zum Ausgleich erst einmal das „Lied von der Glocke“ schreiben, diesen Kurzschluss von Biedersinn und Erhabenem. Schwer zu sagen, ob Brandauer weiß, wo er da sitzt. Eigentlich schon fast im Rollberg-Viertel. Das ist jene Gegend, in der die Polizei – wenn sie da wirklich hinmuss – am liebsten in Mannschaftsstärke auftritt, weil es dort ein bisschen so sein soll wie im „Wallenstein“. Irgendein Vorstadium des Dreißigjährigen Krieges. Dreißigjähriger Krieg ist immer, wenn der Ausnahmezustand beginnt, zum Normalzustand zu werden.
Wallensteins Soldaten kämpfen nicht mehr für irgendeinen Frieden, nein, sie kämpfen für den Krieg. Sie haben sich längst darin eingerichtet, ihre Heimat ist der Krieg. Er ernährt sich selbst. Deshalb hat er auch so lange gedauert. Und deshalb war Hegel so unzufrieden. Da muss doch irgendetwas dabei herauskommen. Insofern denken wir noch immer ziemlich hegelsch. Und Bush ist der Oberhegelianer. Da muss doch irgendetwas dabei herauskommen? Muss es nicht, erfahren wir. Muss es gar nicht. Eigentlich seltsam, dass der „Wallenstein“ – er galt einmal als das größte deutsche Drama – so selten gespielt wird. In gewissem Sinne handelt er doch von der Logik der Gegenwart. Wie sich die Dinge von den Absichten emanzipieren und am Ende etwas eintritt, was niemand beabsichtigt hat. Dazu passen die religiösen Bewusstseinslagen. Schließlich war die Aufklärung auch eine Spätfolge des Dreißigjährigen Krieges. Und erst sie brachte die so schwer erschütterbare Zuversicht, dass alles gut wird. Mit der Welt. Mit uns. Vorher glaubte das keiner.
Hegel soll die „Phänomenologie“ 1806 unter dem Donner der Schlacht bei Jena vollendet haben – was wohl nicht stimmt, aber egal. Urknall zu Urknall! Vielleicht auch wegen seiner „Wallenstein“-Lektüre war Hegel anfangs misstrauisch. War dieser Napoleon nun ein Wiedergänger Wallensteins, nur ein großer Vernichter der Welt, oder war die Verwüstung der Preis für eine neue Ordnung? Bald war er beruhigt: Napoleon, das war der Weltgeist zu Pferde! Die „Phänomenologie des Geistes“ lesen heißt verstehen, wie aus der Eizelle der Erkenntnis Napoleon und schließlich Gott werden kann. Schiller hatte natürlich auch Angst, dass dieser Napoleon ein real existierender Wiedergänger seines Wallensteins sein könnte. Aber er hat nicht gewartet, bis Napoleon in Jena eintraf, sondern ist vorsichtshalber schon vorher gestorben. In Jena, wo Hegel die „Phänomenologie“ schrieb, hatte auch Schiller den „Wallenstein“ verfasst. Das hat insgesamt fünf Jahre gedauert, die drei Jahre Vorarbeiten nicht mitgerechnet. Die Proben dauern schon fast drei Monate und täglich zwölf Stunden, manchmal. Da werden wir doch zehn Stunden im Theater sitzen können. Und in den Pausen lesen wir zur Entspannung die „Phänomenologie“!
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