Stuttgart 21 scheitert

Der tiefergelegte Bahnhof scheitert, und zwar nicht an den Kosten und nicht am Stresstest, sondern am regionalen Widerstand. Der Berliner Politikprofessor Peter Grottian hält das für ein plausibles Szenario

Wird Wirklichkeit Träume haben eine ganz eigene Kraft. Davor fürchten sich mächtige Eliten am meisten. Deshalb erfinden sie auch Wörter wie „alternativlos“ und „Wutbürger“. Wenn die Bürger Stuttgarts sich ihre Träume nicht nehmen lassen, wird Wirklichkeit, was Peter Grottian fabuliert. canislauscher

von Peter Grottian

Stuttgart 21 scheitert im Dezember 2011 am regionalen Widerstand. Das ist ein plausibles Szenario. Am 2. Dezember treten die grün-roten Koalitionäre Kretschmann und Schmid vor die Öffentlichkeit. Sie verkünden das Scheitern des Projekts Stuttgart 21. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg betont: „Stuttgart 21 ist zwar mit vielen Nachbesserungen politisch machbar, aber nicht durchsetzbar.“ Ein umstrittenes infrastrukturelles Großprojekt lasse sich nicht gegen den Willen von circa einer Million Bürgerinnen und Bürgern der Region Stuttgart durchsetzen. Diese hatten von September bis November mit Massendemonstrationen und vielfältigen Aktionen des zivilen Ungehorsams eine Situation herbeigeführt, die auf eine neue Zerreißprobe in der Bevölkerung hinauslief. Die Bürgerinnen und Bürger der Region Stuttgart pochten auf die regionale demokratische Legitimation des Großprojekts. „Stuttgart, oben bleiben – ohne Stuttgart geht nix“, lautete die Parole.

Der Volksentscheid im Oktober hatte in der Großregion Stuttgart eine eindeutige Mehrheit gegen die Tieferlegung des Bahnhofs ergeben, obwohl er schon an den allzu hohen Quotenhürden der Landesverfassung gescheitert war. Stuttgart 21 ist nicht am Stresstest, nicht an den nach wie vor umstrittenen Kosten, auch nicht am Volksentscheid gescheitert, sondern am erbitterten Widerstand der Bürgerinnen und Bürger der Region Stuttgart, konstatieren Kretschmann und Schmid gemeinsam. Eine Demokratie des Gehörtwerdens schließe auch einen massenhaften Minderheitenschutz im Land ein.

Die Stuttgarter Region ist nicht Kleinkleckersdorf, und regionaler Widerstand ist oft der Vorbote von Mehrheitsfähigkeit, wie in Whyl, Wackersdorf und Gorleben, fügt Kretschmann hinzu. Die Landesregierung werde jetzt unverzüglich mit den Ausstiegsverhandlungen beginnen, um die Regressforderungen für die Steuerzahler möglichst gering zu halten.

Dieses Szenario bricht radikal mit der Vorstellung, mit einer grün-roten Landesregierung sei der Kampf gegen Stuttgart 21 schon halb gewonnen. Zugespitzter: Das Glotzen oder Hoffen auf den „negativen Stresstest“ und/oder den Volksentscheid ist blauäugig. Es wäre zu schön, wenn sich das Projekt selbst erledigt. Der Stresstest wird vermutlich, so nicht Kostensprünge im Milliardenbereich auftauchen, ein Expertenstreit ohne eindeutigen Ausgang.

Der Volksentscheid ist für die Kopfbahnhof-Befürworter ungleich gefährlicher. Das Scheitern nach Artikel 60 der Landesverfassung ist wegen der hohen Quotenhürden programmiert. Die Grünen haben sich ohne Not und ohne eingrenzende Bedingungen auf einen Volksentscheid eingelassen, der fast wie ein lackiertes Kuckucksei der Stuttgart-21-Befürworter aussieht: Weder wird die Überschreitung des Kostenrahmens insgesamt angetastet noch der Volksentscheid von einem Minderheitenschutz der Menschen in der Stuttgarter Region abhängig gemacht.

Deshalb bleibt als einzige, reichlich riskante und voraussetzungsvolle Strategie: Die Menschen der Region Stuttgart sollten selbstermächtigend, bürgermächtig und mobilisierungsträchtig mit allen demokratischen Mitteln bis zum zivilen Ungehorsam das Projekt Stuttgart 21 verhindern. Das Pochen auf einer weiträumigen Legitimation der zuvorderst Betroffenen war schon der Schlüssel von Gorleben, Wackersdorf und Wyhl. Die Stuttgarter Protestszenerie war bisher beeindruckend vielfältig. Der lange Atem der Menschen scheint vorerst ungebrochen.

Ziviler Ungehorsam als Salz in der Suppe der Demokratie

Die mutmaßliche Enttäuschung über die grün-rote Landesregierung kann sich für die außerparlamentarischen Aktivisten positiv auswirken. Zu lernen ist noch mehr eine Toleranz der Radikalitäten, die den zivilen Ungehorsam als notwendiges Salz in der reichlich öden Suppe der Demokratie einordnet. Nicht sich gleich distanzieren, wenn die Parkschützer eine Aktion der Regelverletzung anzetteln! Das Aushalten unterschiedlicher Radikalitäten ist der Schlüssel für den Widerstand gegen Stuttgart 21 insgesamt. Wer sich vor der Bild-Zeitung oder RTL-Reportern unnötigerweise distanziert, ist mitverantwortlich für das Zerbröseln des Widerstands. Sich respektierende Vielfalt ist das innere Band des Widerstands.

Deshalb gilt: Die Gegner des Projekts haben sich in Stuttgart, im Ländle, in der Republik viel zugetraut. Es ist ihr Verdienst, dass die oft geballte Faust nicht mehr schlaff in der Hosentasche versinkt. Stuttgart 21 ist das Symbol für eine Selbstermächtigung der Bürger, in der Politiker unsere Angestellten werden sollen. Die Gegner sind neben Gorleben ein Ermutigungsprojekt für eine Demokratie von unten. Die Menschen aus der Region Stuttgart haben die Macht, Stuttgart 21 gewaltfrei und bürgermächtig endgültig zu Fall zu bringen.

Peter Grottian (68) war bis 2007 Politikprofessor an der Freien Universität Berlin. Der Mitinitiator des Stuttgarter Demokratie-Kongresses im Februar 2011 wird den Text in abgewandelter Form bei der Demonstration gegen Stuttgart 21 am Samstag, 21. Mai, vortragen.