Gewehrfeuer vs. Florett

In einem Spiel von seltener Intensität bedrängen die Tempofußballer von Manchester United den AC Milan am Ende erfolgreich. Die Italiener um den genialen Kaka waren wohl eine Spur zu cool

AUS MANCHESTER RAPHAEL HONIGSTEIN

Kaka lag bäuchlings am Boden. Er schaute kurz auf, blieb aber liegen. Das Spiel ging weiter, Kaka aber lag immer noch auf dem Rasen. Der 25-Jährige lächelte, ungläubig. Schließlich stand er doch auf und schaute fragend nach oben. Der Ball war nicht reingegangen, warum um Himmels Willen nicht? Sein Lächeln wurde breiter. Macht ja nichts, dachte er wohl. Ein fataler Irrtum. Er konnte das nicht wissen.

Von den 73.000 regelrecht hypnotisierten Zuschauern im Stadion „Old Trafford“ erinnerte sich nach diesem von unfassbar intelligenten, unglaublich schönen Angriffen schier überbordenden Champions-League-Klassiker kaum einer an diese kleine Szene, besser gesagt, an die ihr voraus gegangene Großchance Kakas zum 1:3. Der sichtlich mit sich selbst und der Welt zufriedene United-Trainer Alex Ferguson hatte sie jedoch nicht vergessen. Er saß gelöst in der Presskonferenz und sah im Geiste noch einmal, wie Milans Clarence Seedorf, die personifizierte Ausgeschlafenheit, Kaka Anfang der zweiten Hälfte daunenkissen-weich vor die Füße flankte, wie der Brasilianer den Ball direkt nahm, wie der Ball über den Kasten strich. Ein dritter Gegentreffer, Kakas Hattrick, wäre unser Ende gewesen, war sich Sir Alex sicher. „Kaka hätte treffen müssen“, sagte der Schotte, „so aber hatten wir eine Rettungsleine“.

Sein United ist beileibe keine Mannschaft ohne Schwächen. „Vorne waren sie Nischinski, hinten ein Schmierenkomödiant“, schrieb die Daily Mail in Erinnerung an das polnische Ballett-Genie. Aber wenn man dieser vom bedingungslosen Glauben an die eigene Torgefährlichkeit befeuerten Truppe so eine Leine hinwirft, ist man selber schuld. Die Gastgeber griffen mit beiden Händen zu und zogen so heftig, dass die eben noch locker an der Reling lehnenden Italiener hochkant über Bord flogen. Wayne Rooneys zweiter Treffer in der Nachspielzeit zum 3:2 – der eingewechselte Cristian Brocchi hatte kriminell fahrlässig den Ball an Ryan Giggs verloren – drehte ein schwieriges Resultat mit einem Schlag in einen Sieg um, der den Engländern, wie Sir Alex hofft, den entscheidenden Vorteil im Rückspiel gibt. „Wir haben den Sieg verschenkt“, grämte sich dagegen Milans Trainer Carlo Ancelotti mit einem kleinen Seufzer. Es war ähnlich wie gegen den FC Bayern im San Siro, als Daniel van Buyten spät zum 2:2 ausglich.

Entschieden ist noch nichts, allein über die Qualität der Vorstellung im „Theater der Träume“ gibt es keine zwei Meinungen. Das stürmende, drängende United gegen Milans seelenruhige Routiniers, gefühlte 1.000 Attacken gegen eine Hand voll chirurgische Eingriffe, Maschinengewehr gegen Florett. Es war ein Duell, dem man noch gerne ein paar Stunden länger zugeschaut hätte. Im Old Trafford wurde nicht nur um Raum und Ball gekämpft, sondern vor allem um Zeit. Um das Tempo des Spiels. Die Hausherren wussten, dass den Italienern am ehesten mit Hochgeschwindigkeitsfußball beizukommen war, nach dem frühen 1:0 saßen sie fest im Fahrersitz und drückten das Pedal kräftig durch. Kaka fühlte sich „eine Sekunde lang an (das Schicksal der 7:1 gedemütigten) Roma erinnert“, dann brachten Seedorf und Andrea Pirlo den Fuß auf die Bremse und die Hand ans Steuer. Nicht für lange. Als Zuschauer saß man ungeschnallt auf der Rückbank und erlitt ein leichtes Schädeltrauma: Hin und her schlingerte diese Partie, die ständigen Richtungs- und Tempowechsel waren nicht zu antizipieren, und auch die Helden lösten sich andauernd ab: Die Frühphase gehörte dem uneinholbar schnellen Cristiano Ronaldo, der Mittelteil dem eleganten, sensationellen Kaka – „er macht Sachen, die für andere unvorstellbar sind“ staunte Ancelotti – und das Ende dem Kraftprotz Rooney, der erst einen unglaublichen Lupfer von Paul Scholes und danach Giggs’ präzisen Pass in den Lauf verwertete.

„Die Niederlage brennt“, sagte der verletzt ausgeschiedene Gattuso, aber er sah ziemlich zufrieden aus, genau wie Kollege Oddo, der von „einem positiven Ergebnis“ sprach. Als kurz darauf wegen eines Bombenalarms ein Teil des Stadions evakuiert wurde, stand Ancelotti trotzdem ganz gelassen vor dem Mannschaftsbus und gab weiter Interviews. Vielleicht ist das ja die Erklärung für Milans chronische Anfälligkeit in den Schlussminuten: Diese Kerle sind einfach zu cool, um die Angst zu spüren, die einen bis zum Schluss wach hält. Am Mittwoch kommen sie schon wieder zusammen. United, „die Mannschaft, die nicht weiß, wann sie geschlagen ist“ (Daily Telegraph), und Milan, das Team, das öfter vergisst, dass es ein Spiel schon gewonnen hat. Die Prognose fällt da sehr leicht: Es wird ein himmlisches Vergnügen.