JEAN PETERS POLITIK VON UNTEN
: Fataler Fisch-Fetisch

Was Götter, Kutter und Tiefkühlprodukte über Postkolonialismus in Indien erzählen

Es heißt, jede Geschichte, jeder Mythos, jede Idee des Abendlandes und unserer Provinz Europa haben die InderInnen in einer ihrer Göttergeschichten schon auf eine Art beschrieben. Ob queere Geschlechter, moralische Lehren der Transzendenz oder sexuelle Befreiung – alles schon passiert. Dann kam der Tiefkühlfisch.

In den Sechzigern verbreitete sich die Erfindung industrieller Tiefkühlkost. Fischkutter aus Kanada, Norwegen und den USA tuckerten nach Indien, um hinduistischen Fisch zu kristallisieren und nach Hause zu entführen.

Das hatten die Götter noch nicht erlebt. Als dann später der Fetisch des freien Marktes standardisiert und exportiert wurde, waren die Fischer vor Indiens Küste einer Armee von 5.000 motorisierten Kuttern ausgesetzt – liberalisiert mit dem Rückenwind der Welthandelsorganisation. Motoren zerschnitten die Netze, Treibstoff verpestete das Wasser, statt der nachhaltigen 20 Prozent der Bestände wurden nun 80 Prozent gefischt. Die Reproduktion der Fische war bedroht.

Was würde nun Schiwa tun, oder seine queere Frau Kali, die Göttin des Kampfes und der Veränderung, wenn die WTO entscheiden würde, alles sei verkäuflich – sogar Wischnus erste Form der Inkarnation: der Fisch? In den Veden – heiligen hinduistischen Schriften – ist dazu nichts zu finden. Doch es radikalisierte sich eine Fischerbewegung, die eine beispielhafte Basisorganisation ist. Wann hat in Deutschland eine Massenbewegung versucht, Gefängnisse zu fluten, um die Politik ihres Staates mattzusetzen? Wann sind zwanzig Leute in den Hungerstreik getreten, 17, 19 Tage lang?

In Kerala waren sie in „Communities“ organisiert, Konglomeraten von Dörfern, die als Rat entschieden, sich den Protesten anzuschließen, sobald die Nachricht des Aufruhrs dort ankam. In der „Put me into jail“-Aktion ließen sich über tausend Fischer offensiv und größtenteils gewaltfrei ins Gefängnis kloppen, bis die Gefängnisse überfüllt waren. Ihre Hungerstreiks, die Kutterbesetzungen und Barrikaden gaben den Rest. Heute dürfen in ihrem Küstenbereich lediglich hundert motorisierte Kutter fischen, 4.900 weniger als zuvor.

Der Anthropologe Bruno Latour besteht darauf, dass Politik und Naturwissenschaft, Ideologie und die Erscheinung von Dingen, Fakten und Fetisch nicht getrennt gedacht werden dürfen. Die Verbindung von Fakt und Fetisch nennt er Faitiche. Der globale Fisch-Faitiche ist ein wunderbares Beispiel, wie sich der Kult der Moderne ausprägt, die Wischnu-Fische einfach so gefangen nehmen wollte. Ohne mit den Ökofischern gesprochen zu haben.

Das Tourismusministerium wirbt heute noch mit dem Spruch „Kerala – God’s own country“. Die Götter rollen bestimmt mit den Augen, wenn sie die neueren emanzipatorischen Kämpfe miterleben. Und sollte Kerala noch den Göttern gehören, bleibt die Frage, wer hier Gott ist und wessen Geschichten weitererzählt werden.

Der Autor ist Clown, Aktivist und gerade in Indien Foto: S. Noire