Paranoikers Tirade

Der FC Chelsea gewinnt das Duell der konservativen Konzeptfußballer. José Mourinho meckert mal wieder

LONDON taz ■ José Mourinho sah erschöpft auf, beinahe ein bisschen zerschlagen. „Wir sind alle müde hier und ziemlich am Ende“, gab Chelseas Trainer zu, „vier Titeln hinterherzujagen ist ermüdend, körperlich und mental.“ Nach dem 1:0 gegen Liverpool, das der Portugiese verhalten als „ein Ergebnis, ein positives Ergebnis“ beschrieb, konnte er sich nicht einmal auf sein Bett richtig freuen: „Ich schlafe nie nach solchen Spielen, ich analysiere sie und suche nach den Fehlern.“ Viel falsch gemacht hatten seine Blauen am Mittwoch eigentlich nicht. Der größte Fauxpas war dem Meister selbst unterlaufen, als er kurz nach Schlusspfiff im englischen Fernsehen einen nicht gegebenen Handelfmeter beklagte: „Ich verstehe nicht, warum Chelsea keine Strafstöße bekommt. Das war ein klarer Elfmeter. Das wäre die große Chance auf das 2:0 gewesen, ich finde das unfair. Hoffentlich müssen wir nach dem Rückspiel nicht weinen und an diese Entscheidung zurückdenken.“

In Wahrheit wird niemand an den Fehler des ansonsten sehr guten Schiedsrichters Markus Merk zurückdenken, denn Liverpool-Verteidiger Alvaro Arbeloa hatte den Ball in der 50. Minute gut zwei Meter vor dem Strafraum mit der Hand erwischt. Mourinho ruderte nach seiner peinlichen Fehleinschätzung schnell wieder zurück – „es war Hand, ob vor oder im Strafraum, konnte ich nicht sehen“, sagte er – doch er hatte es mal wieder geschafft: Der verdiente Sieg seiner Mannschaft wurde von der paranoiden Tirade überschattet.

Das passiert eben, wenn sich ein zu Motivationszwecken kultivierter Verfolgungskomplex irgendwann verselbstständigt. Als er noch beim FC Porto tätig war, schien der 44-Jährige überzeugt, dass man als kleinerer Verein in Europa benachteiligt würde. Nun haben es die Verschwörer logischerweise auf den größten Klub abgesehen. Mourinhos Lieblingsfeind Rafael Benítez, der ob der schwachen Leistung seiner Elf ebenfalls kein glückliches Gesicht machte, hatte zumindest die Lacher für sich: „Wenn José sagt, es war Elfmeter, dann muss es Elfmeter gewesen sein“, sagte der Spanier.

Chelsea und Liverpool, das Duell zweier zu ähnlich spielenden Mannschaften, war am Ende genau das Spiel geworden, das viele erwartet und befürchtet hatten. Der englische Meister konterte im eigenen Stadion gegen zurückhaltende Gäste, die einen ziemlich schlechten Tag erwischt hatten. Von Kapitän Steven Gerrard, der immer wieder auf eigene Faust von rechts in die Mitte zog und seinen laut fluchenden Trainer verrückt machte, ging eine allgemeine taktische Verunsicherung aus, die Chelsea ökonomisch nutzte. Das Team spielt wie sein Stürmer Didier Drogba: Was der Mann mit Ball und Gegner macht, sieht selten einwandfrei und noch seltener elegant aus, aber irgendwie drückt, schiebt und boxt sich der Ivorer jedes Mal ins Ziel. Joe Cole nutzte Drogbas Hereingabe zum einzigen Treffer (29.), später ärgerte sich Frank Lampard über zwei vorzügliche Paraden von Liverpools Schlussmann Pepe Reina. So viele Chancen bekommt man gegen die Reds in Europa selten.

Liverpool war auch nur zu einer einzigen Tormöglichkeit gekommen. „Sie zeigten eine Reaktion in der zweiten Hälfte“, spottete Mourinho, „eine Reaktion mit einer Chance“. So kann Konzeptfußball eben auch aussehen: modern, schnell und taktisch ausgereift, aber trotzdem vorsichtig und in seinem innersten Wesen konservativ. Das Match relativierte die in den vergangenen Tagen überall eiligst und ungenau formulierte These von der Weltdominanz der Premier League. Von den großen vier – Chelsea, Liverpool, ManU und Arsenal – spielen erstens nur die beiden Letzteren technisch feinen Angriffsfußball, und zweitens hört das ganz große Niveau ab Platz fünf schlagartig auf. Wenn Mittelklassemannschaften gegeneinander antreten, kommt anstatt dem viel gepriesenen One-touch-Fußball nur der schnelle Griff zur Off-Taste an der Fernbedienung.RAPHAEL HONIGSTEIN