„Jetzt macht sie mal nass!“

STUTTGART 21 Der Schwarze Donnerstag im Schlossgarten jährt sich zum vierten Mal – das Chaos bei der Einsatzplanung kommt nun langsam ans Licht

„Das war Kadavergehorsam von jungen Beamten“

DIETRICH WAGNER, DEMONSTRANT

STUTTGART taz | Mit dem Schlossgarteneinsatz verband die Polizei die Hoffnung, einen Brennpunkt im S-21-Konflikt zu befrieden – stattdessen hat sie einen neuen geschaffen. Vier Jahre sind seit dem Polizeieinsatz mit offiziell mehr als 150 Verletzten vergangen. Vier Jahre, in denen die Polizei lange gemauert hat.

Seit Juni berichten Polizisten als Zeugen vor dem Landgericht, wie sie den Einsatz wahrgenommen haben. Dort sind zwei Einsatzleiter wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagt. Auch im Untersuchungsausschuss „Schlossgarten II“ werden Einsatzdetails rekonstruiert. Details aus der Sicht der Polizisten, die die Einsatzplanung heftig kritisieren.

Aufgabe der Polizei ist es am 30. September 2010, den Park abzusichern, damit Bäume zur Vorbereitung von S-21-Bauarbeiten gefällt werden können. Doch mehrfach wird der Einsatzbeginn verschoben. Am Vorabend wird die Wasserwerferstaffel aus Biberach plötzlich mit vier statt wie geplant zwei Wasserwerfern angefordert. „Wir waren knapp besetzt“, sagt der Staffelführer. Bei der Lagebesprechung am Morgen wird nicht auf die Wasserwerferfahrer gewartet. Der Staffelführer erhält entgegen den Vereinbarungen keine Funkgeräte für seine Mannschaft. Über die nahe Schülerdemo informiert ihn niemand.

Ankunft im Park: „Viele Leute, wenig Polizei“, beschreibt der Staffelführer seinen ersten Eindruck. Vom Hauptbahnhof her strömt die Schülerdemo in den Park, Jugendliche besteigen einen Lkw. „Die waren gut drauf, da herrschte Partystimmung“, sagt der Staffelführer. Per Lautsprecherdurchsage fordert die Polizei dazu auf, den Wagen zu räumen. „Das hat alles nicht gefruchtet. Die haben uns ausgebuht, ausgelacht.“ Die Lage spitzt sich zu, vor allem, weil die Demonstranten auf den Wasserwerfer aufmerksam werden und den Weg blockieren.

Um 11.45 Uhr erteilt der Einsatzleiter dem Staffelführer den Befehl: „Jetzt macht sie mal nass!“ Der Anwalt des Einsatzleiters sagt vor Gericht, dieser habe gehofft, dass sich die Blockierer dann zurückziehen. Damit habe er eine Massenpanik und eine zweite Tragödie wie bei der Duisburger Loveparade verhindern wollen. Doch die Strategie geht nicht auf. „Durch das Wasser kamen immer mehr Leute“, sagt der Staffelführer. „Die Aggression nahm halbstündlich zu. Meine Theorie: Auch weil ziemlich viel Pfefferspray benutzt werden musste.“

Von Schwerverletzten habe man lange nichts gewusst, sagt der Führungsassistent des damaligen Polizeipräsidenten vor dem Untersuchungsausschuss. Dass das Bild des verletzten Demonstranten Dietrich Wagner mit den blutenden Augen an der Wand im Büro des Führungsstabs geklebt habe, sei ein Gerücht. „Das haben wir erst abends über die Medien mitbekommen.“

Im Schlosspark arbeitet der Chef der Wasserwerferstaffel bis 5 Uhr morgens, geht dann ins Hotel. Nach dem Aufwachen liest er gegen 12 Uhr Medienberichte. „Ich habe mich gefragt: War das ein anderer Einsatz? Ich habe vor der Polizeikette gar nichts davon mitbekommen.“

Nicht die Behörde, aber einzelne Polizisten äußern nun oft Bedauern. „Wir hatten uns die Lage ganz anders vorgestellt. Sonst hätten wir anders geplant“, sagt der Führungsassistent. Er spricht von einer „Verkettung unglücklicher Umstände“, die ihm leidtue. Für den damals schwerverletzten Dietrich Wagner verdichtet sich dagegen das Gefühl, dass der Einsatz hätte verhindert werden können: „Das war Kadavergehorsam von jungen Beamten. Keiner hat aus Eigenverantwortung gesagt: Ich mache hier nicht mit.“ LENA MÜSSIGMANN