: Der geduckte Mensch in der Finsternis
SCHAUBÜHNE Michael Thalheimer inszeniert Leo Tolstois erstes Stück, „Die Macht der Finsternis“
Der geduckte Mensch, da ist er wieder. Der vom Schicksal gebeugte, von Armut niedergedrückte, von Sündhaftigkeit verkrümmte Mensch. Er kriecht auf allen Vieren. Oder hetzt mit eingeknickten Beinen und waagerecht gestelltem Oberkörper dahin. Oder schleift sich auf den Armen vorwärts. Der geduckte Mensch ist schlecht, mehr Tier als Mensch, den Trieben ausgeliefert, dem Begehren, der Gier. Der geduckte Mensch spuckt seine Sätze grob und rau heraus und übt den böse stierenden Blick von schräg unten. Der geduckte Mensch ändert sich nicht, er ist von vorn bis hinten gleich, er hat keine Chance.
Keine Chance lässt ihm das Bühnenbild von Olaf Altmann, in dem Michael Thalheimer in seiner ersten Arbeit für die Schaubühne Leo Tolstois erstes Stück in Szene setzt. „Die Macht der Finsternis“ heißt es, und finsterste Dunkelheit ist es, die von oben und unten auf die Figuren eindringt. Eine schwarz getünchte Riesenportalwand klemmt sie ein in einem niedrigen Hellholz-Gang. Wenig mehr als einen Meter hoch führt dieser von links wie von rechts auf einen kleinen, kargen Raum in der Mitte zu. Darin ein Bett mit einem Kreuz darüber und einem Todkrankem drauf, Orgelgedröhn im Hintergrund.
Auf dem Bett röchelt und windet und verkrampft sich Kay Bartholomäus Schulze als reicher, aber dahinsiechender Bauer, während seine Frau Anisja (Eva Meckmann) ihn in ihrem Herzen längst gegen den jung agilen Knecht Nikita (Christoph Gawenda) eingetauscht hat. Mit größtmöglicher Garstigkeit sucht sie den Tod ihres Mannes herbeizukeifen und hilft später mit Gift nach. Nicht minder garstig gebärdet sich Stieftochter Lea Draeger als Akulina, mit der es Nikita ebenfalls treibt.
Trotzdem heiratet er nach Pëtrs Tod Anisja, obwohl sie ihm in seinem stumpf hedonistischen Neureichentum binnen Kurzem nur noch Klotz am Bein ist. Als Akulina ihm ein Kind gebiert, zwingt Anisja ihn, es zu töten – sodass ihm schließlich all sein Unglück mit reuiger Wucht ins Bewusstsein fällt und er seine Sünden bekennt.
In Tolstois Stück von 1886 ist viel von Gott die Rede, viel von den Sünden, die man um der Liebe und des Geldes willen auf sich türmt. Und es ist voll von schicksalsergebenen Sätzen. „Jetzt soll kommen, was kommen mag“, geht so ein Satz. Thalheimer lässt sie gern bei verebbendem Decrescendo wiederholen. Wie winzig der Spielraum der Figuren ist, veranschaulicht Altmanns Bühnenbild mit bestechend treffsicherer Symbolkraft. 2007 hatte er für Thalheimer schon Hauptmanns „Ratten“ in eine ähnliche Menschenpresse gezwängt, in der keiner mehr aufrecht zu stehen vermochte.
Nach vorne brüllen
Doch leider ist dieser geduckte Mensch hier nach ungefähr zehn Minuten auserzählt, und leider gleicht einer dem anderen in seiner herausgebrüllten Schlechtigkeit so aufs Haar, dass man als Zuschauer kaum Interesse, geschweige denn Empathie oder sonst etwas für diese Figuren aufbringen könnte. Zu allem Überfluss tragen sie streckenweise auch noch lappenhafte Masken, ohne dass man fürs fehlende Minenspiel mit irgendeiner Sinnfälligkeit entschädigt würde. Ein spielerischer Lichtblick ist Judith Engels giftmischende Kupplerin Matrjona, deren trockener Witz über die Zynismusgrenze hinausreicht. Ein Lichtblick ist auch Thomas Badings alter Nikita-Vater Akim, dem im frommen Mahnertum Kolibri-schnell der Zeigefinger flattert.
Aber was ist sonst geblieben von dem Formalisten Thalheimer, dem Regisseur etwa jener zauberschönen „Emilia Galotti“ am DT und einer Körpersprache, die, beredter als alle Worte, das Figureninnere in expressiver Pose nach außen stülpte?
Das stilisierte Spiel scheint zumindest bei Thalheimers Berliner Arbeiten immer seltener auf, übrig geblieben ist das Nach-vorne-Sprechen, Nach-vorne-Brüllen vor allem. Und eine Bühnenbildidee von Olaf Altmann. ANNE PETER
■ Weitere Aufführungen: 23. 5., 24. 5., 17. 6., 18. 6.
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