Boxen statt Klavierspielen

LESUNG Christian Stahl im Heimathafen Neukölln über das Leben des Yehya E.

Die Politik feiert ihn schnell als Vorzeige-Aussteiger, den Streitschlichter in Neukölln

VON NADJA NEQQACH

Vier Monate vor seinem zehnten Geburtstag entdeckt Yehya das Schild: „Klavierspielen für Kinder ab 10“. Er zählt die Tage, kann den 16. Oktober 2000 kaum mehr erwarten, denn er weiß jetzt, was er sich wünscht. Zwei Tage vor seinem Geburtstag zeigt Yehya seinem Vater den Verein. „Hundert Mark monatlich“, sagt die Dame. Das ist zu viel, weiß der kleine Junge. Vater und Sohn verlassen die Musikschule, gegenüber prangert eine große Leuchtreklame: „BOXEN“. Zehn Mark monatlich würde der Unterricht hier kosten. „Wäre das nicht was für dich?“, fragt der Vater. Seinen zehnten Geburtstag verbringt Yehya im Boxclub und nicht im Klavierverein.

Yehya E., Sohn palästinensischer Flüchtling aus dem Libanon, ist heute 23 Jahre alt. Mit sieben begeht er seine erste Straftat, mit 13 ist der Einser-Schüler Berlins jüngster Intensivstraftäter, zwei Jahre später ernennt er sich zum „Boss der Sonnenallee“. Der Journalist Christian Stahl liest im Heimathafen Neukölln aus seinem Buch „In den Gangs von Neukölln“. In einem eindrücklichen Porträt schildert er eine Geschichte, die beispielhaft für so viele Familien ist, die aufzeigt, wo deutsche Flüchtlingspolitik versagt und Ämter und Behörden jeden Ansatz von Integration unterbinden.

Stahl lernt Yehya im Jahr 2005 kennen. Er ist gerade von Köln nach Berlin gezogen, auf der Suche nach einer billigen Bleibe landet Stahl in Neukölln, auf der berüchtigten Sonnenallee. Er trifft den 14-jährigen Yehya oft im Flur. Der Junge ist aufmerksam, höflich, hilft ihm die Einkäufe nach oben zu tragen. Dass seine Beziehung zu dem Jungen derart intensiv werden würde, weiß der Stahl damals noch nicht. Es dauert nicht lange bis er auch den Jungen kennenlernt, der kaltblütig zuschlägt, überfällt, ausraubt.

Szenisch liest Stahl an diesem Abend zusammen mit dem Kabarettist Murat Topal. Er selbst übernimmt die Kapitel, während Topal abgedruckte Briefe Yehyas vorliest. Beinahe zehn Jahre kennt Stahl Yehya. Zehn Jahre, in denen er den jungen Mann, dessen Familie und das Milieu wie seine eigene Westentasche kannte. „Als Yehya rückfällig geworden ist, habe ich das erste Mal an meiner Arbeit gezweifelt“, sagt Stahl. War er zu weit gegangen? Hatte er die Grenze zwischen Freundschaft und journalistischer Arbeit zu weit überschritten?

Nachdem Yehya als 17-Jähriger zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt wurde, zeigte er sich nach der Entlassung geläutert. Er schließt die Schule ab, will seine kriminelle Vergangenheit hinter sich lassen. Von Politikern wird er schnell als Vorzeige-Aussteiger gefeiert, arbeitet als Streitschlichter in Neukölln. 2013 der Rückfall: Yehya begeht mit einer achtköpfigen Bande drei schwere Raubüberfälle, die Männer gestehen die Tat, werden verurteilt. Für Stahl ein Moment großer Enttäuschung, nicht nur wegen seiner Arbeit, vor allem aus persönlicher Sicht.

Sein Buch beendete er dennoch, im Einverständnis mit Yehya. Zwischen den einzelnen Lesepassagen werden Videoausschnitte des 23-Jährigen gezeigt. Er sitzt wieder im Gefängnis. Die Interviews zeigen einen jungen Mann, der sich seiner Taten zweifellos bewusst ist, sich aber in einem Strudel gefangen sieht, aus dem er nie zu entkommen scheint. Stahl gibt aufwühlenden Einblick in die Welt der Kriminalität, ins Alltagsleben deutscher Gefängnisse, die Schikanen der Ausländerbehörde und die Absurditäten des deutschen Asylrechts.