„Es bleibt eine geteilte Heimat“

Arbeit an der Gemeinschaft – das ist das Projekt des jungen Regisseurs Tilmann Köhler aus Weimar. Er kommt zum Theatertreffen nach Berlin, das kommende Woche beginnt. Aber vorher bringt er noch am Gorki Theater Berlin die Uraufführung der „Separatisten“ von Thomas Freyer heraus

Noch kein Regisseur, der zum Theatertreffen eingeladen war, war bisher so jung: Tilmann Köhler, 1979 in Weimar geboren und seit 2005/06 Hausregisseur am Deutschen Nationaltheater in Weimar, kommt von dort mit „Die Krankheit der Jugend“ von Ferdinand Bruckner am 9. Mai zum Theatertreffen nach Berlin. Kurz vorher, am 30. April, bringt er am Maxim Gorki Theater in Berlin als Gastregisseur die Uraufführung eines Stücks von Thomas Freyer, „Separatisten“, heraus. In beiden Stücken folgt er einer Spur, nämlich der Frage nach der Bildung von Gemeinschaft, die ihn seit seinem Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin beschäftigt. FOTO: THOMAS AURIN

INTERVIEW IRENE GRÜTER
UND KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Herr Köhler, in Weimar haben Sie das Stück von Tine Rahel Völckel „In einer Höhle vor der Stadt mit Nazis und Bäumen“ uraufgeführt, am Gorki Theater Berlin inszenieren Sie die „Separatisten“ von Thomas Freyer. Sind sich die beiden Stücke nicht sehr nah in den Fantasien, aus allen bisherigen Bezügen und gesellschaftlichen Verortungen auszusteigen?

Tilmann Köhler: Das sind verwandte Stoffe. Verwandt vor allem darin, dass sich die Figuren zurückziehen wollen, um zu etwas Neuem zu finden. In der „Höhle“ ziehen Johanna und Holm in einen Plattenbau, um Konzentration und Abstand zu finden, in den „Separatisten“ wollen die Protagonisten ihren Plattenbau vor dem Abriss besetzen und ein autonomes Projekt beginnen – mit einem Zaun drumherum: Man mauert sich ein, um frei zu werden.

In beiden Stücken ist der Ort der Utopie ein runtergekommener Plattenbau. Haben Sie eine eigene Plattenbau-Biografie?

Nicht direkt. Ich habe aber lange Zeit in Gera gewohnt, und dort gibt es zwei große Neubaugebiete, in denen viele meiner Freunde und Verwandten wohnten. Thomas Freyer, der die „Separatisten“ geschrieben hat, ist dort groß geworden. Heute sieht man in Gera, dass diese Gebiete Stück für Stück jetzt einfach abgetragen werden – dabei ist es verrückterweise noch nicht lange her, dass sie für Aufbruch standen, so um 1980. Wenn die Leute heute noch einmal so anfangen wollen, dann bleibt ihnen nur der Hypothekenhügel. Ich finde das Bild sehr schön, mit dem Thomas „Die Separatisten“ beginnen lässt: Eine Wüste aus Sand, drückende Hitze hat sich über das ehemalige Wohngebiet gelegt. Das Bild trifft sehr genau dieses Gefühl von Geparktsein, das mit dem Leben dort verbunden ist. Gera ist ja eine von diesen Städten, die mit 100.000 Einwohnern noch als Großstadt gelten: Aber wenn man 18 ist, geht man weg, weil es keine Perspektive gibt.

Ist der Traum von Ausstieg und Neubeginn eine spezifische Ostgeschichte?

Das denke ich schon. Wenn man in Weimar zum E-Werk, der Studiobühne des Theaters, geht, kommt man an ganz unterschiedlichen Gesellschaftsentwürfen vorbei, die sich in der Architektur spiegeln. Dieses Gau-Forum von den Nationalsozialisten, das jetzt plötzlich zum Einkaufspalast Atrium geworden ist, steht einem Studentenwohnheim aus Ostzeiten gegenüber. In diesem Gau-Forum wiederum ist in der obersten Etage so ein Opern-Bühnenbild eines italienischen Dorfes, weil Goethe nach Italien gereist ist. In der Tiefgarage steht ein Spruch an den Wänden: „Sie kamen, sahen und gingen einkaufen.“ Dieses unkommentierte Nebeneinander der Zeiten bestimmt auch die Empfindungen der Figuren in der „Höhle“ und den „Separatisten“: Sie sitzen in den Trümmern von Ideologien, und es ist so schwer, daraus eine neue Perspektive zu entwickeln.

In die Vorstellung der „Separatisten“ von ihrer Unabhängigkeit mischen sich sehr schnell Zeichen von Gewalt. Der Zaun muss verteidigt werden. Die Kolonie wirkt auch wie ein Lager. Wird hier die Mauer noch mal gebaut?

Das ist das Fragezeichen, mit dem das Stück spielt. Den Figuren geht es darum, durch diese Idee wieder zusammenzuwachsen. Sie wollen ja aus dem Zustand raus, dass keiner mehr dem anderen in die Augen schaut. Ich glaube, ganz entscheidend ist, dass man plötzlich wieder etwas miteinander teilt, der Moment von Gemeinschaft. Es geht den Separatisten nicht darum, dort Leute drin zu behalten, die das nicht wollen, sondern die Figuren wollen vielmehr einen geschützten Raum haben, um gemeinsam eine Utopie zu entwickeln.

Zum Theatertreffen sind Sie mit Ihrer Inszenierung von Ferdinand Bruckners „Krankheit der Jugend“ von 1926 eingeladen. Auch da geht es immer um die junge Generation, die sich von der vorhergehenden Verbürgerlichung abgrenzen will. Ein Satz aus einem Lied von „Tocotronic“, das in „Krankheit der Jugend“ gespielt wird, würde eigentlich auf alle drei Stücke passen: „Alles was ich will ist nichts mit euch zu tun haben“.

Damit hängt sogar noch mehr zusammen. Auch Kleists „Penthesilea“, da heißt es: „Die abgestorbene Eiche steht im Sturm, doch die gesunde stürzt erschmetternd nieder, weil er in ihre Krone greifen kann.“ Da ist auch schon dieses Bild: Die Ruinen des Vergangenen bleiben stehen, aber etwas Neues schafft es nicht.

In „Krankheit der Jugend“ gibt es den Satz „Alle Menschen sollten sich mit 17 erschießen“, in der Höhle heißt es …

„Entweder bringt man sich mit 30 um oder man heiratet.“ In dem Stück „Amoklauf mein Kinderspiel“, auch von Thomas Freyer, kommt ein ganz beiläufiges Bild vor: „Auf dem Tisch liegt die Milka-Schokolade und die Schachtel f6.“ In diesen beiden kleinen Symbolen liegt ein ganz wichtiger Moment für diese Nachwende-Generation, das Nebeneinander zweier Systeme. Meine Generation hat den Osten gar nicht mehr bewusst erlebt – ich war neun, als die Wende kam, und habe von der DDR-Zeit nicht mehr viel mitbekommen. Aber was man erfahren hat, war, wie die Biografien der Eltern und Lehrer plötzlich auseinanderbrachen, und etwas davon setzt sich in den Kindern fort: Dieses Zwischen-den-Stühlen-Sitzen. Auch, wenn man selbst vielleicht schon viel mehr in diesem neuen System angekommen ist, bleibt es eine geteilte Heimat.

Das Herstellen von Gemeinschaft ist in allen Stücken ein Stichwort. Sie arbeiten am Theater in Weimar fest mit einer Gruppe von jungen Schauspieler, mit denen Sie der Weimarer Intendant Stephan Märki von der Ernst-Busch-Schule in Berlin an sein Haus geholt hat. Wie wichtig ist die Kontinuität der Zusammenarbeit?

Für mich persönlich ist diese Gruppe ein ganz wichtiges Moment: Wir sind gemeinsam auf der Suche. Für mich ist ein großes Ideal Wirklichkeit geworden, weil wir weiter zusammenarbeiten können. Während der Schulzeit haben wir uns mal zusammengesetzt und überlegt, wie das aussehen müsste, das Theater, das wir uns vorstellen.

Haben Sie ein Manifest geschrieben?

Das ist zu hoch gegriffen. Das waren nur drei Seiten, da stand etwa drin, dass das gemeinsame Entwickeln der Geschichte, der Text und die Schauspieler im Mittelpunkt stehen sollen. Wir haben viel Theater gesehen, das sich mit großer Distanz und aus einem ironischen Blickwinkel mit Stoffen auseinandersetzt, und wir hatten das Gefühl, das ist nicht unser Ding. Deshalb wollten wir den Weg gehen, diese Dinge ernst zu nehmen – ein Theater, das sich nicht über die Figuren stellt.

Ihre bisherigen Inszenierungen arbeiten mit dem Bild der Schauspieler als Gruppe. In der „Höhle“ sind sie die ganze Zeit in einem einsehbaren Gerüst zu sehen, Modell für den Plattenbau. In „Krankheit der Jugend“ sind die jungen Medizinstudenten in einem Schwimmbecken zusammen, wie Labortierchen. Ist es ein Teil des Konzepts, durch das permanente Beobachten Druck zu erzeugen?

Was ich ganz wichtig finde, ist, als Spieler vollständig durch die Geschichte zu gehen, immer wieder der ganzen Erzählung zu folgen.

Das hört sich an wie ein Gegenbild zum Kino, dessen Schnitttechnik häufig auch am Theater benutzt wird. Steckt da der Wunsch dahinter, das Theater bewusst als Live-Situation zu betonen?

Das war nicht der Ansatz, aber es stimmt natürlich in gewisser Weise. Gerade die kleinen Spielstätten haben für mich einen großen Reiz: Sie können etwas, was im Film nicht möglich ist. Dass man ganz nah bei den Leuten ist, den Schweiß riecht nach zwei Stunden, den realen Erschöpfungsgrad sieht.

Am Gorki Theater leiten Sie das „Kloster der Wut“, einen Programmblock mit mehreren Uraufführungen. Was ist das für ein Projekt?

Das hat wieder mit dem Thema zu tun, wovon wir gesprochen haben: Man zieht sich zurück, um zu etwas Neuem zu finden und um dieser Wut gegenüber der Gegenwart nachzuspüren. Ähnlich wie in den Stücken – nur dass sich jetzt ein paar junge Autoren und Regisseure zusammen zurückziehen und ein paar Regeln setzen. Wir wollen einen geschützten Raum für erste Gehversuche schaffen, damit es nicht in erster Linie darum geht, wie verkauf ich mich als Autor oder als Regisseur, sondern wie kommt man an diese Themen ran. Das steht natürlich der Theaterlandschaft entgegen, die von jungen Künstlern fordert, jetzt sofort einen ganz entschiedenen Wurf zu machen.

Ihr Weg war erstaunlich, noch mit Ihrer „Penthesilea“-Inszenierung von der Ernst-Busch-Schule kamen Sie ans Theater Weimar. Vier Inszenierungen später sind Sie zum Theatertreffen eingeladen. Fühlen Sie sich in der Klassikstadt Weimar instrumentalisiert, für den Programmpunkt Jugend und Gegenwart zu stehen?

Nein, ich habe ja auch im großen Haus gearbeitet, zum Beispiel den „Drachen“ inszeniert. Auch das Stück hatte mit der Geschichte der Stadt zu tun: In Weimar hat man den Eindruck, egal in welcher Zeit, diese Stadt hat immer zu den Gewinnern gezählt. Dieses Goethe-Schiller-Denkmal vor dem Theater ist vereinnehmbar für jeden Geschichtsentwurf. Das sieht man auf alten Fotos aus der Nazizeit und aus der DDR. Aber weil in dieser kleinen Stadt ganz viele Zeiten zusammenkommen, kann eine Inszenierung von den unterschiedlichen Generationen auch unterschiedlich gelesen werden. Das macht es spannend.