Hätte er doch geschwänzt

Silber gewonnen oder Gold verloren? Mitten im Abiturstress holt der 19-jährige Fabian Hambüchen EM-Silber im Mehrkampf der Turner – und etabliert sich als einer der besten Allrounder weltweit

AUS AMSTERDAM JÜRGEN ROOS

Wenn der Hambüchen-Clan in Riegenstärke antritt, dann gibt es meistens etwas zu feiern. Seltener müssen die älteren Herren da sein, um den kleinen Fabian gegen allzu kritische Fragen in Schutz zu nehmen. Am Samstag, nach dem Mehrkampf der Turn-Europameisterschaft, war auf die Schnelle nicht eindeutig zu entscheiden, welcher Fall nun eingetreten ist. Gerade eben hatte Fabian Hambüchen, der 19-jährige Turner aus Wetzlar, Mehrkampfsilber gewonnen. Das war außer Eberhard Gienger 1975 bisher noch keinem zweiten deutschen Turner gelungen. Allerdings: Bis zu einem kleinen Konzentrationsfehler am Ende seiner Pauschenpferd-Übung hatte Hambüchen klar auf Titelkurs gelegen, und insofern war die Frage nicht ganz unberechtigt, ob der 1,63 Meter kleine Mann aus Wetzlar nun EM-Silber gewonnen hatte oder Gold verloren gegen den Russen Maxim Deviatovski.

In Hambüchens Betreuerteam gab es keine Zweifel: Wolfgang Hambüchen, der Trainer und Vater des Athleten, Bruno Hambüchen, der Onkel und psychologische Berater sowie der Manager Klaus Kärcher werteten die Medaille als klaren Erfolg für den Turner, der in den vergangenen Monaten tief im Abiturstress steckte und deshalb die ein oder andere Trainingseinheit ausfallen lassen musste. Unterstützung erhielt der Clan von Wolfgang Willam, dem Sportdirektor des Deutschen Turnerbundes (DTB). „Das war ein super Wettkampf“, sagte Willam, „Fabian hat gefightet bis zum Schluss, und deshalb ist das Ergebnis mehr als okay.“

Es war also, wie immer im Turnen, eine Frage der Bewertung. „Ich bin sehr glücklich“, sagte Fabian Hambüchen, der nach dem „harten“ Wettkampf, der über sechs Geräte ging, eine ehrliche Analyse abgab. „Das Besondere im Mehrkampf ist ja, dass man trotz kleiner Fehler vorne landen kann“, sagte Hambüchen. Am Sprung, am Barren und am Boden hatte der 19-Jährige eine ganze Reihe dieser kleinen, aber verzeihlichen Fehler gemacht. Dann legte Hambüchen eine Weltklassekür am Reck hin und gab zu: „Da habe ich meine Chance gewittert.“ Der zusätzliche Fehler am vorletzten Gerät, dem Pauschenpferd, war jedoch zu viel. Deviatovski, der seinerseits am Reck gepatzt hatte, überflügelte den Deutschen beim abschließenden Ringeturnen noch und ließ den Traum vom ersten deutschen Mehrkampftitel aller Zeiten platzen. Hambüchen trug’s mit Fassung, gratulierte dem Russen und ließ sich seinen Ärger nicht anmerken. Der muss vorhanden gewesen sein, nachdem er den Titel schon so nah vor sich gesehen hatte.

Später sprach Hambüchen davon, dass er nach Mehrkampf-Bronze bei der WM 2006 erneut gezeigt habe, dass er „zu den besten Mehrkämpfern der Welt“ gehöre. Und dann sagte er, dass er nun froh sei, dass „die Schule fast vorbei“ ist. Weil Hambüchen das in astreinem Schulenglisch sagte, hatte mancher den Eindruck, der letzten mündlichen Abi-Prüfung des 19-Jährigen beizuwohnen. Die findet jedoch erst in ein paar Tagen statt, und dazu im Fach Politik. Dennoch war es das bestimmte Thema. Hambüchen hatte in der EM-Vorbereitung nämlich klare Prioritäten gesetzt: Schule ging klar vor Training, das Abitur vor dem sportlichen Erfolg. So gesehen war die Frage, ob Hambüchen ohne Schulstress den Titel geholt hätte, eine hypothetische. Und die Mehrzahl der Experten wertete den Vizeeuropameistertitel vor diesem Hintergrund ohnehin als weitere sportliche Reifeprüfung des Ausnahmeturners.

Hambüchens Manager Klaus Kärcher, der den Turner seit dessen unvergesslichem Reck-Auftritt bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen behutsam in der Öffentlichkeit aufbaut, sah keinen Grund zur Besorgnis. „Mehrkampf-Gold wäre eine wirkliche Sensation gewesen“, sagte der Stuttgarter, weshalb auch diese Silbermedaille „Gold wert“ sei. Ein verantwortungsbewusster Manager muss solche Worte sagen, Recht hatte Kärcher aber mit der Einschätzung, dass ein Turner, der mit 19 Jahren bereits mehrere EM- und WM-Medaillen gesammelt hat, „auf einen weiteren positiven Verlauf seiner Karriere hoffen lässt“.

Beim DTB ist man ebenfalls froh um den kleinen Vorturner, der sich nach seinem Schulabschluss zunächst ausschließlich auf das Training konzentrieren wird. Jetzt schon gilt Hambüchen als Turner, der – wenn er von schweren Verletzungen verschont bleibt – in den nächsten zehn bis zwölf Jahren immer für mindestens eine internationale Medaille gut ist. Davon hatte man beim Turnerbund seit dem Rücktritt des Reck-Weltmeisters und -Olympiasiegers Andreas Wecker jahrelang nur geträumt. Jetzt aber war die Europameisterschaft in Amsterdam nur eine „Durchgangsstation“ (Kärcher) auf dem Weg zur Weltmeisterschaft, die Anfang September in Stuttgart stattfindet. Dann hat Fabian Hambüchen das Abitur längst in der Tasche – und kann in der Trainingshalle noch viel mehr dazulernen.