Türkei: Der gefährliche Machtkampf
: KOMMENTAR VON JÜRGEN GOTTSCHLICH

Seit dem Wochenende ist die Türkei nur noch wenige Schritte von Gewalt und Chaos entfernt. Die am vergangenen Freitag begonnene Wahl eines neuen Staatspräsidenten droht zum Anlass für einen offenen Streit in dem seit Jahren schwelenden Konflikt zu werden. Einem Konflikt zwischen dem laizistischen und dem religiös orientierten Lager des Landes.

Mit der Putschdrohung der Generäle und den Massendemonstrationen auf der einen Seite, dem kompromisslosen Beharren der Regierung, ihren Kandidaten zum Präsidenten zu machen, auf der anderen Seite, ist die letzte Eskalationsstufe vor der offenen Gewalt erreicht. Wer von den politisch Verantwortlichen des Landes, egal ob in der Regierung, in der Opposition oder im Generalstab, jetzt keinen Kompromiss anstrebt, will Blut sehen.

Einen vorläufigen Ausweg aus dem Konflikt könnte das Verfassungsgericht bieten. Wenn es den ersten Wahlgang, bei dem Abdullah Gül nicht die Mehrheit erzielte, für ungültig erklärt, könnte Erdogan ohne Gesichtsverlust Neuwahlen zum Parlament ausrufen lassen und die Putschdrohung abwehren. Beide Großgruppen der Gesellschaft hätten dann die Möglichkeit, den Konflikt an der Wahlurne auszutragen. Wer die Wahl zum Parlament, die eigentlich erst im November stattfinden soll, gewinnt, kann dann mit mehr demokratischer Berechtigung als bisher einen Präsidenten wählen.

Grundsätzlich bleibt der Konflikt um den Weg, den die Türkei in der Zukunft gehen wird, aber virulent. Das Land ist nun einmal nicht nur die Brücke zwischen Ost und West, sondern auch der Frontstaat, in dem die Konflikte mitten durch die Gesellschaft gehen. Die einzige Chance, langfristig friedlich damit umzugehen und einen immer wieder neu zu suchenden Ausgleich zu finden, sind stabile demokratische Regeln, die von allen respektiert werden. Dazu muss gehören, dass das Militär in seine Schranken verwiesen wird. Gleichzeitig darf aber keine der beiden Gruppen versuchen, auf der Basis einer Zufallsmehrheit, wie sie das Parlament derzeit darstellt, die Machtbalance aus den Angeln zu heben. Ein neuer Gesellschaftsvertrag kann nur im Dialog entstehen. Was die Türkei braucht, ist eine neue politische Kultur.