Der Klingeltonkünstler

Seine Karriere begonnen hat Andy Reimer als Teenager – mit den Gitarrenparts der Dire Straits. Mit 20 war er Profimusiker. Heute produziert er Hits fürs Handy. Und träumt von der eigenen Platte

Die synthetischen Kurzlieder als Ohrwürmer fordern den ganzen Musiker „Das ist das Geschäft. Ich verkaufe das und muss das persönlich nicht gut finden“

VON THOMAS JOERDENS

Die Entscheidung fürs Künstlerleben fällte Andy Reimer bereits als Elfjähriger. Musiker wollte er werden und ordnete seiner Berufung alles andere unter. Mit Ach und Krach schaffte er den Hauptschulabschluss. An eine Lehre verschwendete der Junge keinen Gedanken. Dafür konnte er sämtliche Gitarrenparts seiner Dire-Straits-Platten nachspielen und beherrschte das Beatles-Songbook aus dem Effeff. Er besuchte als Teenager Musikvorlesungen und paukte täglich zehn Stunden Spieltechniken, Kirchentonarten, Musiktheorie, die er auf einer Konzertgitarre umsetzte. Das Instrument hatte das Sozialamt spendiert. Andy Reimer wuchs ohne Eltern in einer Kreuzberger WG für betreutes Wohnen auf. Irgendwann stand der eigenwillige junge Mann auf Klubbühnen, improvisierte in Jazzcombos oder brachte das Publikum mit Funk und Soul zum Tanzen. Er fiel auf und bekam Angebote als Studiomusiker. Der Gitarrist spielte Platten für Juliane Werding, Jeanette Biedermann, Howard Carpendale ein. Mit Mitte 20 hatte er es geschafft. Er war Profimusiker und konnte davon leben.

Abgefahrene Gitarrensoli hat Andy Reimer hinter sich gelassen. Heute sitzt der 40-jährige Familienvater meist vor zwei Bildschirmen und komponiert am Computer. Zwischendurch klimpert er auf den Keyboards neben ihm, probiert kurze Tonfolgen aus, summt eine Melodie. Dann blickt er wieder still und konzentriert auf die Monitore vor den abgedunkelten Fenstern, drückt Tasten, dreht Knöpfe. Der schlanke Mann mit Allerweltshaarschnitt, Bluejeans und grauem Pulli überraschte die Musikergemeinde vor einigen Jahren mit einer neuen Karriere als Klingeltonkomponist.

Die Klingeltonbranche wächst unaufhörlich. 2006 machten Europas Ringtone-Anbieter mit Musikdownloads fürs Handy erstmals einen Umsatz jenseits der 2-Milliarden-Euro-Grenze. Aus diesem Kuchen schneidet sich Andy Reimer inzwischen größere Stücke heraus. Vor zwei Jahren gründete er eine eigene Firma und vertreibt jetzt selbst mobiles Entertainment: Klingeltöne, Funsounds, Bildschirmschoner, Wallpapers, Popmelodien, Animationsfilmchen. Seitdem kreiert Andy Reimer in seiner Altbauwohnung polyphones Elektronikgepiepse im standardisierten 40-Sekunden-Format. Der Musiker erfand die „Partybiene“, komponierte für das blaue Nilpferd „Kozo“ den „Hippo Rave“, schrieb dem Küken „Sweety“ eine lustige Melodie auf den gelben Wuschelleib. Als Freiberufler produzierte er weitere Kassenschlager für den Weltmarktführer Jamba! aus Berlin.

Einen Widerspruch zwischen dem traditionellen Musizieren und dem Komponieren von komprimierten Soundminiaturen am Rechner sieht Andy Reimer nicht. „Ich muss die Melodien aufs Wesentliche reduzieren und dafür wissen, wie Musik funktioniert“, erklärt er in sachlichem Ton und meint: Die synthetischen Kurzlieder in Ohrwurmqualität fordern ebenfalls den ganzen Musiker. Dabei setzt er sich mit für ihn neuen Richtungen wie Techno oder Klassik auseinander. „Man lernt dabei sehr viel und erweitert den Horizont. Das macht das Leben doch erst spannend.“ Solche Sätze klingen wie Binsenweisheiten. Aber Andy Reimer meint, was er sagt. Er öffnet seine Ohren für alles. Für ihn bilden Miles Davis, Frank Zappa, Robbie Williams, Gwen Stefanie keine hierarchische Musikerpyramide.

Andy Reimer versteht es zudem, mit seiner Kunst über die Runden zu kommen. Denn er greift zu, wenn sich Gelegenheiten bieten. Das war in seiner Zeit als Studiogitarrist so. Und auch bei „Sweety“ und Co. In die Klingeltonszene rutschte Andy Reimer vor fünf Jahren zufällig. Ein Nachbar gab ihm den Tipp, dass „Jamba!“ Musiker suche.

Das traf sich gut. Andy Reimer wollte sich verändern. Nach über zehn Jahren an der Gitarre war das nächste Solo nicht mehr das Wichtigste. „Ich hatte mich ausgetobt, wollte nicht mehr den Tourenreiter machen und wünschte mir ein regelmäßiges Einkommen.“ Während der Arbeit als Studiomusiker hatte er Lust aufs Komponieren und Produzieren bekommen und sich Ende der 1990er-Jahre daheim ein Tonstudio eingerichtet. Jetzt fehlten nur noch die Aufträge.

Der musizierende Pragmatiker betrachtet die Herstellung von Klingeltönen als Brotjob. Den erledigt er gewissenhaft und mit Leidenschaft. Wie alles, was mit Musik zusammenhängt. „Als Gitarrist war es gleichgültig, ob ich Jazz oder Schlager gespielt habe. Es ging immer um Musik, und die muss hundertprozentig sein.“ Dasselbe gilt für Klingeltöne, die Andy Reimer zuerst in ein Diktiergerät singt und anschließend am Computer ausarbeitet. Manche Ideen fliegen ihm zu. Über andere Kompositionen brütet er Tage. Die Inspiration zur „Partybiene“ verdankt Andy Reimer seinem fünfjährigen Sohn Paul.

„Die Melodien, die am Rechner entstehen, sind vielleicht künstlerisch nicht gerade herausragend. Aber ich stehe dahinter“, behauptet der Musiker. Er gibt zu, dass viele der Charaktere, Motive, Lieder kitschig seien. „Aber das ist das Geschäft. Ich verkaufe das und muss das persönlich nicht gut finden.“ Deutlicher kritisiert er die zeitweise aggressive Werbung von Klingeltonanbietern.

Schrilles Gehabe ist nicht Andy Reimers Sache. Als Bühnenmusiker gab er nicht die glamouröse Rampensau, sondern spielte in der zweiten Reihe sein Instrument. Auch heute fällt er nicht auf. Selbst sein Mobiltelefon meldet sich unspektakulär normal. „Vielleicht bin ich zu schüchtern. Aber ich wollte nie Popstar sein, sondern ein ruhiges Leben führen.“ Andy Reimer verfolgt seine Ziele lieber unbemerkt, beharrlich, konzentriert. Sowohl als Musiker als auch als Unternehmer.

Die Firma lässt ihm kaum Zeit für Musik. Nur sporadisch tritt er mit einer Disco-Coverband auf. Selbst das Komponieren von Handyklingeln habe spürbar nachgelassen. Dafür handelt er Verträge aus, pflegt Geschäftskontakte, organisiert, plant. Das macht Andy Reimer ebenfalls Spaß. Denn der Laden läuft gut, und der neugierige Jungunternehmer musste sich in eine neue Materie einarbeiten.

Doch wenn der Musiker nicht mehr musiziert, leidet auf Dauer die Künstlerseele. Andy Reimer spürt den Druck, der sich langsam aufbaut. „Da sind eine Menge Gefühle, die mal wieder rausmüssen.“ Es gibt schon eine Idee für ein Ventil. In den nächsten zwei Jahren will er eine Platte produzieren. Er selbst würde Gitarren, Bässe, Schlagzeug einspielen. Den Gesang und die übrigen Instrumente sollen befreundete Musiker übernehmen. Andy Reimer schätzt, dass er als Gitarrist bei 20 bis 30 Langspielern mitgespielt hat. Die nächste wäre seine erste eigene Veröffentlichung mit seinen Liedern. Er deutet vage eine Mischung aus Jazz, Rhythm ’n’ Blues, Rock und Pop an, die über ein Label verkauft werden soll. Andy Reimer will mit dem Debüt allerdings keine versäumte Popstarkarriere nachholen. Er ist und bleibt Musiker. Und Musik muss hinaus in die Welt. Egal ob Klingeltöne oder Popsongs. Und wenn dabei Geld herausspringt, umso besser.