„Wir haben gar keine Wahl“

Vor eineinhalb Jahren beschimpfte sie Nicolas Sarkozy als „Gesindel“. Jetzt mobilisieren sich die Jugendlichen in den Pariser Banlieues für die Präsidentschaftswahl – gegen Sarkozy. Welche Hoffnungen sie auf Ségolène Royal setzen

In der östlich von Paris gelegenen Banlieue Clichy-sous-Bois flüchteten am Abend des 27. Oktober 2005 drei Jugendliche vor der Polizei in ein Trafo-Häuschen. Zwei Jugendliche kamen darin um. Ihr Tod löste noch in derselben Nacht wütende Reaktionen in Clichy-sous-Bois aus, die sich in den Folgetagen auf andere Banlieues ausbreiteten. Binnen drei Wochen gingen bei den längsten Unruhen seit Jahrzehnten in Frankreich mehr als 9.000 Autos sowie Bushaltestellen, Kindergärten und Mülltonnen in Flammen auf. Es wurden Ausgangssperren verhängt. Tausende Jugendliche wurden festgenommen, Hunderte zu Gefängnisstrafen verurteilt. Innenminister Nicolas Sarkozy behauptete damals, die Jungen seien bei einem Diebstahl gestört worden. Inzwischen ermittelt die Justiz gegen mehrere Polizisten. Beim ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen am 22. April haben sich in Clichy-sous-Bois 82 Prozent der WählerInnen – mehr als je zuvor – beteiligt. Ihr Votum (42 Prozent für Ségolène Royal) ist ein Plebiszit gegen Nicolas Sarkozy (25 Prozent). Auch in den meisten anderen Gemeinden des Départements „neuf-trois“ war das Ergebnis von Sarkozy deutlich schlechter als im französischen Durchschnitt.

AUS CLICHY-SOUS-BOIS DOROTHEA HAHN

Was sich geändert hat? „Nichts“, sagt Linda: „nichts“. Die 21-Jährige hat ein Diplom als Sekretärin – und findet nur einen Job in einer Zeitarbeitsagentur. Ihre Eltern, die vor einem Vierteljahrhundert aus Marokko gekommen sind, „dürfen arbeiten, Steuern zahlen und Frankreich aufbauen“, aber nicht wählen. Die jungen Männer aus ihrer Nachbarschaft pendeln alle drei Monate zwischen Wohnblock und Gefängnis. Und die Politiker haben sich bloß im Wahlkampf wieder an ihre Versprechungen an die Banlieue erinnert.

Eineinhalb Jahre nachdem Clichy-sous-Bois in die Schlagzeilen geriet, ist die Arbeitslosigkeit unverändert hoch. In manchen Straßen der 28.000-Einwohner-Gemeinde zwölf Kilometer östlich von Paris trifft sie mehr als 40 Prozent der jungen Männer – bei den Mädchen liegt die Zahl etwas niedriger. Die Wohntürme sind noch heruntergekommener als damals. Und die Nachfahren der Einwanderer aus dem Maghreb, aus Afrika und der Türkei sind weiterhin unter sich. Seit den Aufständen sind die Bewohner selbstbewusster geworden. Sie haben das „Wir“ entdeckt. Identifizieren sich als „neuf-trois“ – als Bewohner des gleichnamigen 93. Départements. Beteiligen sich erstmals massiv an Präsidentschaftswahlen. Finden Argumente für ihre Wahlentscheidung im „neuf-trois“. Und benutzen ein Wort, das der frühere Innenminister für gewalttätige junge Männer benutzt hat, als Gegenwaffe. „Wir sind kein Gesindel“, sagt Linda, „auch wenn wir vor der Haustüre herumstehen.“ Am Sonntag wird die junge Frau gegen Nicolas Sarkozy stimmen: „Ich habe gar keine Wahl. Er würde unser Sozialsystem kaputtmachen.“

Rosa Pantoffeln mit Pailletten für zwei Euro, Plastiktischdecken mit Blumenmuster und goldgerahmte Spiegel mit der Aufschrift „Allah akbar“ liegen auf dem Stand, den Salim auf dem Wochenmarkt von Clichy-sous-Bois aufgeschlagen hat. Er ist gelernter Bauarbeiter. Schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Kommt damit nur selten über 100 Euro im Monat, „was nicht zum Leben reicht“. Und hat an manchen Tagen mehrere Begegnungen mit Polizisten, die seine Papiere kontrollieren und ihn duzen: „wie alle Jungen im neuf-trois. Ganz egal ob wir weiß, braun oder schwarz sind.“

Wenn der 21-Jährige über die Polizei redet, zuckt er resigniert mit den Schultern: „Für die sind wir Fledermäuse, die nachts klauen und tagsüber schlafen.“ Als Kommentar zur Wahl trällert der junge Mann einen Refrain von dem Rapper „Sniper“: „Ich wähle den, der das Schlimmste verhindert.“ Für Salim geht es am Sonntag darum, Sarkozy zu verhindern: „Der ist rassistisch wie Le Pen und sagt es bloß nicht.“

Mounir würde, wenn er schon wählen dürfte, seine Stimme „Ségolène“ geben: „Damit Sarkozy nicht Präsident wird.“ Er war 13, als seine Freunde Bouna und Zyed in dem Trafohäuschen verbrannt sind. Er war wütend, auf die Polizei, „wegen der die beiden gestorben sind“. Wütend, „weil es im Fernsehen hieß, die Jungen seien selbst schuld“. Und wütend, „weil die Häuser in Clichy so dreckig sind und die Mülltonnen so selten geleert werden“. Mounirs Vater, aus Marokko eingewanderter Pizzaiolo, verbot ihm an den lauen Abenden im Oktober 2005, die Wohnung zu verlassen. Mounir weiß, dass er draußen „vielleicht dasselbe gemacht hätte“ wie andere Jungen. Stattdessen beobachtete er die brennenden Autos aus dem Fenster und im Fernsehen. Und schrieb seine ersten Gedichte. Sie handeln von Freundschaft.

Seither ist Mounir Mitglied einer Gruppe von Slammern geworden. Er schreibt Gedichte in der Alltagssprache der Banlieue. Einem Gemisch aus Französisch und Arabisch, durchsetzt von Worten, in denen die hintersten Silben nach vorne gezogen sind. Mounir möchte später einmal Klempner werden. Er ist kein besonders guter Schüler. Nicht einmal in Französisch. Aber als Slammer gelingen ihm Texte, in denen jede Zeile einen Rhythmus und jedes Wort eine Botschaft hat. Der 15-Jährige hat auch einen für eine eventuelle Begegnung mit Sarkozy geschrieben: „Ich heiße Mounir. Ein Name für einen Kriminellen. Ich komme aus neuf-trois. Aus Clichy. Ich rede vulgär. Entschuldigen Sie. Ich bin Gesindel.“

Von den Türmen der „Résidence Forestière“ blättern die letzten Reste brauner Farbe. Auf dem Gras liegen ausrangierte Mikrowellenherde, Plastikflaschen und Brotreste herum. Nachts sind in den Müllhaufen Ratten unterwegs, von denen Anwohner erzählen, dass sie „größer“ seien als die Katzen, die sie ihnen hinterherjagen. Die Hauseingänge sind mit Dutzenden von Graffitis beschmiert. Mitte der 80er-Jahre waren die Eigentumswohnungen begehrte Immobilien. „In der Eingangshalle gab es ein Aquarium auf einem Marmorsockel, im ersten Stock wohnte ein Notar, im zweiten ein Zahnarzt“, erinnert sich Jihad, der als Baby in die Siedlung kam. Heute kann der 24-Jährige seine Wohnung nicht einmal mehr auf dem freien Markt verkaufen. Die Stadt Clichy-sous-Bois, die die Türme demnächst abreißen und an anderer Stelle neue Häuser bauen will, hat sich das Kaufrecht gesichert, um neuen Spekulanten einen Riegel vorzuschieben.

Der Notar, der Zahnarzt und fast alle anderen weißen Familien haben die Siedlung Forestière verlassen. Die Einwanderer und ihre Nachfahren sind geblieben. Das Hauptproblem für sie ist die Kriminalität. „Seit dem Herbst 2005 ist es noch schlimmer geworden“, sagt Nathalie, die mit ihrer aus der Elfenbeinküste stammenden Mutter im 14. Stock von Turm Nummer zehn wohnt. „Der Staat hat uns allein gelassen.“ Vor eineinhalb Jahren hat sie nachts auf der Straße versucht, die Jugendlichen zu beruhigen. „Wir müssen uns organisieren“, sagte sie. In den vergangenen Wochen hat Nathalie Wahlkampf für Ségolène Royal gemacht. „Wenn Sarkozy gewinnt, könnte es hier sehr heiß werden“, sagt Nathalie. Schon am Abend des ersten Wahlgangs wurden in Clichy-sous-Bois Autos abgefackelt.

Am letzten Märztag konnten die Bewohner von Turm zehn von La Forestière aus dem Fenster beobachten, wie ein 45-jähriger Nachbar von ihnen ins Koma geprügelt wurde. Sie sahen, wie schwarze Jugendliche den Pakistaner Arshad Mohammad um Zigaretten baten. Als er ablehnte, schlugen sie zu. Das Opfer starb zwei Wochen später. Sechs mutmaßliche Täter sind inzwischen verhaftet worden. Vergangenen Sonntag veranstalteten die Bewohner von La Forestière einen Schweigemarsch. „Clichois gegen jede Form von Gewalt und gegen alle Diskriminierungen“ stand auf ihrem Transparent.

„Clichy ist wie eine Behinderung“, beschreibt Yousra ihr Lebensgefühl. Seit acht Jahren lebt die 21-jährige Tochter von tunesischen Einwanderern in der Siedlung. Wenn sie spätabends von ihrem Theaterkurs zurückkommt, hat sie keine Angst vor den jungen Männern in den Hauseingängen: „Die kennen und schützen mich.“ Sie meint, dass ein Leben in „La Forestière“ den Charakter stärkt. Aber zugleich betrachtet sie die Adresse als ein Problem bei der Arbeitssuche. „Die Patrons sind ohnehin zurückhaltend bei Leuten mit arabischen Namen. Wenn wir auch noch aus Clichy kommen, halten sie uns für Wilde. Für Analphabeten. Und haben Angst, dass wir ihr Auto anzünden könnten“, sagt Yousra. Sie will Clichy-sous-Bois so schnell wie irgend möglich verlassen.

Samir Mihi kennt den misstrauischen Blick. Wenn der 29-Jährige mit seiner Frau in eine Boutique geht, kann er sicher sein, dass ihm ein Wachmann folgt. Wenn er mit anderen Männern zu dem örtlichen Supermarkt Leclerc geht, muss er sich darauf einstellen, dass nur einer von ihnen in das Geschäft hineingelassen wird. „Unsere Hautfarbe ist gefährlich“, sagt er. 2005, auf dem Höhepunkt der Unruhen in den Vorstädten, hat Sportlehrer Samir Mihi zusammen mit anderen jungen Leuten aus Clichy-sous-Bois die Initiative Aclefeu gegründet – ihr Name bedeutet „genug des Feuers“. Eineinhalb Jahre später kann die Initiative mehrere Erfolge verbuchen: Sie hat die Bewohner des Ortes zur Eintragung in die Wählerlisten und zum Wählen animiert. Sie hat in einer Tournee durch Frankreich tausende von Beschwerden von Vorstadtbewohnern gesammelt. Und sie hat den Präsidentschaftskandidaten einen „sozialen Vertrag“ vorgelegt, der auch konkrete Schritte gegen Arbeitslosigkeit und Ghettobildung enthält. Nicolas Sarkozy hat den Vertrag nicht unterschrieben. Ségolène Royal wohl. „Die Leute in Clichy-sous-Bois wissen, gegen wen sie stimmen müssen“, davon ist Samir Mihi überzeugt.