Tränengas und Festnahmen zum 1. Mai

Bei einer nicht genehmigten Kundgebung der Gewerkschaften kommt es in der türkischen Metropole Istanbul zu teilweise schweren Zusammenstößen mit der Polizei. Demonstranten fordern Rücktritt der Regierung und Neuwahlen

ISTANBUL taz ■ Hunderte festgenommene Demonstranten, ein riesiges Polizeiaufgebot und Scharfschützen auf den Dächern machten die Anspannung deutlich, die derzeit in der Türkei herrscht. Eigentlich hätte es eine würdige Gedenkfeier werden sollen. Der linke Gewerkschaftsdachverband DISK hatte für den 1. Mai eine Demonstration auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul angemeldet, um der 38 Toten zu gedenken, die vor 30 Jahren bei der Kundgebung am 1. Mai 1977 auf demselben Platz umkamen, als rechtsradikale Täter in die Menge schossen. Das damalige Attentat war der Auftakt zu den bürgerkriegsähnlichen Unruhen, die drei Jahre später in einem Militärputsch im September 1980 mündeten.

Auch gestern war von einer friedlichen Gedenkkundgebung nicht mehr viel zu spüren. Obwohl die Kundgebung am Taksim-Platz zunächst genehmigt worden war – in der Regel herrscht dort Demonstrationsverbot –, kamen den Verantwortlichen angesichts der Spannungen, die wegen Putschdrohungen und Präsidentenwahl derzeit das Land völlig aufwühlen, dann doch Bedenken. In den frühen Morgenstunden erließ der Gouverneur ein Verbot der Demonstration. Um dem Nachdruck zu verleihen, wurden nicht nur die Straßen rund um den Taksim-Platz weiträumig abgesperrt. Auch die Fähren über den Bosporus fuhren nicht, und die Bosporus-Brücken wurden durch Polizeikontrollen fast lahmgelegt.

Das Ergebnis war ein gigantisches Verkehrschaos. Tausende Demonstranten, die von Besiktas, einem Viertel auf der europäischen Seite der Stadt, losmarschieren wollten, wurden von der Polizei eingekesselt und festgehalten. Dabei kam es zu ersten Auseinandersetzungen, bei denen die Polizei Tränengas einsetzte und etliche linke Protestierer festnahm.

Nach langen Verhandlungen wurde einem Teil der Gewerkschafter erlaubt, als geschlossener Block und eingerahmt von Polizeihundertschaften den Hügel zum Taksim-Platz hinaufzumarschieren. Dort legten sie, immer noch eingekesselt von der Polizei, für die Ermordeten des 1. Mai 1977 einen Kranz und Blumen nieder. Anschließend kam es in der vom Taksim-Platz abgehenden Haupt-Fußgängerzone Istanbuls erneut zu Auseinandersetzungen, weil die Polizei mit einem enormen Aufgebot bis zuletzt den Platz abschirmte und tausende Mai-Demonstranten nicht durchließ. Dabei ging die Mai-Demo über in eine Anti-Regierungs-Demonstration, bei der der Rücktritt von Premier Erdogan und Neuwahlen für das Parlament gefordert wurden.

Ob es zu Neuwahlen kommt, wird sich heute entscheiden, wenn das Verfassungsgericht über den Antrag der Opposition, den ersten Wahlgang der Präsidentenwahl für ungültig zu erklären, entschieden hat. Wird dem Antrag stattgegeben, gibt es Neuwahlen. Lehnt das Gericht die Klage ab, wird sich der Kandidat der Regierung, Außenminister Abdullah Gül, im zweiten Wahlgang um die notwendigen Stimmen bemühen.

Gestern sickerte durch, dass der Berichterstatter im Verfassungsgericht empfiehlt, die Klage abzulehnen. Das Gericht muss dem nicht folgen, doch allein das Gerücht sorgte für helle Aufregung. Niemand weiß, was passieren wird, wenn die regierende AKP trotz Millionendemonstrationen und Drohungen des Militärs daran festhält, ihren Präsidenten zu wählen. Die Angst ist groß, dass es dann endgültig zum Chaos kommt. Das ausländische Kapital ist in Panik und zieht Milliarden von der türkischen Börse ab. JÜRGEN GOTTSCHLICH