„In den Lagern werden wir verrückt“

DER TRAUMATISIERTE Mahamed Salle, 24, aus Tschad, hat einen Bürgerkrieg überlebt und die Fahrt im lecken Boot nach Europa. Als sich ein Freund im Heim in Eisenhüttenstadt erhängt, geht er zum Oranienplatz

Mahamed Salle spricht leise. Sehr schmal ist er. 1990 wurde er im Tschad geboren. Dort begann 2005 der Bürgerkrieg, drei Jahre später starb sein Vater, der für die Rebellen kämpfte. Salle, seine Mutter und seine drei Schwestern mussten das Land verlassen. Anders als seine Familie durfte Salle nicht in den Sudan einreisen; alle jungen Männer galten als Rebellenkämpfer. Er ging nach Libyen, arbeitete als Gärtner und hoffte, von dort in den Sudan zu gelangen. Nach dem Sturz Gaddafis 2011 wurden viele Migranten aus südlicheren Teilen Afrikas als vermeintliche Gaddafi-Söldner auf offener Straße ermordet. Andere wurden in überfüllten Booten über das Mittelmeer geschickt. Mahamed Salle war einer von ihnen.

Nach kurzer Zeit auf See war das Boot leck, in dem Salle mit Hunderten Menschen saß. Die Menschen gerieten in Panik, erzählt Salle, tagelang schöpften sie Wasser aus dem Schiff, bis sie entdeckt und nach Sizilien gebracht wurden. Salle wollte arbeiten und sich mit anderen Tschadern organisieren, um für Demokratie in seinem Land zu kämpfen. Er bekam Asyl – und hatte damit nichts mehr: In Italien existiert so gut wie keine Grundsicherung für Flüchtlinge. Er lebte er auf der Straße, auch im Winter, in Italien, Frankreich, Luxemburg. Er saß in Gefängnissen, wurde mehrfach nach Italien zurückgeschoben. Arbeit fand er ohne festen Wohnsitz nicht.

Anfang 2013 kam Salle nach Deutschland, wurde wieder nach Italien abgeschoben, kam zurück. Ein Freund, der mit ihm in der Unterkunft in Eisenhüttenstadt lebte, erhängte sich. Salle schloss sich den Oranienplatzprotesten an. „In den Lagern draußen in den Wäldern werden wir verrückt“, sagt er, „ohne Kontakte, ohne Arbeit, ohne das Recht, zu studieren. Ist das Freiheit?“ fragt er und antwortet selbst: „Das ist Gewalt.“ Häufig lacht Mahamed Salle, wenn er von fürchterlichen Dingen erzählt. Wenn er schweigt, blickt er abwesend in die Ferne. Das Gutachten einer Beratungsstelle für Folteropfer attestiert, dass er traumatisiert ist.

Nach der Oranienplatzvereinbarung wurde Salle in einem Heim in Neukölln untergebracht. Inzwischen hat die Berliner Ausländerbehörde ihre Zuständigkeit für seinen Fall abgelehnt und ihn zurück nach Brandenburg an der Havel geschickt. Wie viele Oranienplatzleute musste Salle seine Unterkunft verlassen und bekommt kein Geld mehr, zur Zeit schläft er in einer kirchlichen Einrichtung.

Aber zurück nach Brandenburg will er nicht, er ist sich sicher, dass ihm von dort wieder die Abschiebung droht. „Unser Ziel war es nicht, den Oranienplatz zu zerstören, ohne eine Chance zu haben“, sagt er. „Seit fast vier Jahren bin ich in Europa und verschwende mein Leben.“ Manchmal überlegt Mahamed Salle, in den Tschad zurück zu gehen. Ob er dort inhaftiert, ob er dort umgebracht werden würde? Er weiß es nicht. HILKE RUSCH