Die Speise der Götter

STREETFOOD Mais und noch was hineinpacken – so lautet das Rezept. Doch die meso-amerikanischen Tamales, eingepackt in Pflanzenblätter, bergen nicht nur Köstlichkeiten, sondern auch Geschichten in sich

Seit mehr als 20 Jahren stellt Roberta ihre gelben und grünen Päckchen nicht mehr in ihrem mexikanischen Heimatdorf in den Bergen von Guerrero her, sondern in einer Mietwohnung in der Bronx

AUS NEW YORK DOROTHEA HAHN

Die Tamales waren bereits da, als noch niemand in Europa davon träumte, „Amerika“ zu entdecken. Lange bevor die Hot Dogs und die Hamburger erfunden waren und lange bevor das Englische, Spanische und Portugiesische die indianischen Sprachen verdrängten, aßen die BewohnerInnen des Kontinents bereits Maiskuchen. Sie können süß oder salzig, mild oder scharf sein. Sie sind mal mit Fleisch, mal mit Gemüse, mal mit Nüssen gefüllt. Und sie kommen länglich und rund oder rechteckig und flach daher. Aber alle Tamales haben eines gemeinsam: Sie sind in Naturblätter verpackt. Entweder in strohgelbe Maisblätter oder in glänzend grüne Bananenblätter.

Roberta hat die Tamal-Herstellung von ihrer Mutter gelernt. Diese wiederum von ihrer Mutter. „Ein Rezept?“, lacht Roberta: „Du brauchst einfach Mais und was du noch hineinpacken willst.“

Seit mehr als 20 Jahren stellt sie ihre gelben und grünen Päckchen nicht mehr in ihrem mexikanischen Heimatdorf in den Bergen von Guerrero, unweit des Pazifiks, her, sondern in einer Mietwohnung in der Bronx. Drei Mal die Woche füllt sie eine Thermo-Box mit Tamales. Schleppt ihre Last zur U-Bahn. Und fährt damit zur Upper West Side.

Am frühen Morgen, wenn die Angestellten zu ihren Arbeitsplätzen weiter südlich in Manhattan hasten, steht Roberta neben dem U-Bahn-Eingang. Wenn der Hauptberufsverkehr abebbt, zieht sie ihre Einkaufstasche auf Rädern lange durch die Straßen zwischen Broadway und Amsterdam Avenue, bis sie leer ist. Die länglich-runden gelben Tamales verkauft sie für einen Dollar 50 Cents. Die rechteckigen, die wie wattierte, grüne DIN-A-5-Umschläge aussehen, für 2 Dollar. In New York sind solche Preise für ein nahrhaftes Frühstück unschlagbar.

Auf den ersten Blick ist nicht erkennbar, dass Roberta eine ambulante Verkäuferin ist. Sie ist eine kleine Frau, die eine blaue Schürze trägt, am Rande steht und – wenn überhaupt – nur sehr leise spricht. Wie Tausende andere Tamales-Verkäuferinnen quer durch die USA, die ihre Ware an Verkehrsknotenpunkten und Großbaustellen anbieten, hat ihr Geschäft keinen Namen. Hat sie keine Visitenkarten. Und preist sie ihre Ware nicht laut an.

In den Herkunftsländern der Tamales gibt es Tamales-Rezepte für alle Gelegenheiten: vom Alltag bis zu hohen Festtagen. Aber sie sind zugleich eine frühe Form von „Streetfood“. Die Naturverpackung sorgt dafür, dass sie leicht im Stehen essbar sind. Weder ein Tisch noch ein Teller noch eine Gabel sind unbedingt zum Verzehr nötig. Und die New Yorkerinnen haben es eilig.

Doch bei Tamales prallen Welten aufeinander. Es beginnt beim Namen, der aus der indianischen Sprache Náhuatl stammt. „Tamalli“ bedeutet „verpackt“. Und unter den Blättern verbergen sich tatsächlich Mysterien, die weit über die Stücke Fleisch oder Gemüse hinausgehen, die im Teig stecken. Der Mais für Tamales ist der Rohstoff, aus dem nach Ansicht der Maya auch die ersten Menschen geformt wurden. Tamales gelten als „Speise der Götter“. Und an einer viel befahrenen Straßenkreuzung in Manhattan, wo Roberta auf ihrer Tour oft haltmacht, schwärmt ein junger Mexikaner von der gleichbleibend hohen Qualität ihrer Tamales, womit er sowohl den Geschmack des Gerichtes als auch den Charakter der Köchin meint. „Wer wütend und verbissen ist“, sagt er: „dem gelingen keine Tamales.“ Wut, so die Volksweisheit, kann die Chili-Soße ungenießbar machen.

Die meisten KundInnen von Roberta kommen aus Mexiko, Mittelamerika und der Karibik. Für sie ist ein Tamal nicht nur eine billige Mahlzeit, sondern zugleich ein Stück Heimat mitten in New York. Manche bleiben beim Essen neben Roberta stehen und erzählen davon, wie die Tamales „früher“ schmeckten, zu Hause. Roberta wünscht „buen provecho“ und hört zu. Bei den KundInnen aus den USA verhält sich das anders. In deren Sprache gibt es nicht einmal einen Ausdruck für „guten Appetit“. Snobs, die es unbedingt sagen wollen, müssen das französische „Bon appétit“ bemühen. Aber mindestens ebenso häufig kommt es vor, dass gemeinsam Speisende sich gegenseitig ermuntern: „dig in“ – schaufel rein.

Mit Anfang vierzig hat Roberta vier Kinder und zwei Enkel, die US-AmerikanerInnen sind. Sie fühlt sich weiterhin in Guerrero zu Hause, obwohl sie wegen der Papiere, die sie nicht hat, schon lange nicht mehr dorthin fahren kann. Doch mit ihren Tamales ist sie – die das Wort „Streetfood“ nicht kennt – in New York am richtigen Ort.