Literarische Schürzenjägergesellschaft

NOTATE Wie man empfindsam brodelt und dabei die Republik mitformt: Martin Walsers Tagebücher 1979–1981

Sein unüberbietbares Hauptprodukt war gar kein Roman, sondern natürlich er selbst

VON FLORIAN KESSLER

Schon richtig, was der Literaturkritiker Volker Weidermann da neulich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung geschrieben hat: dass vieles in Martin Walsers neuem, vierten Band der Tagebücher am ehesten an eine Karikatur erinnert, an einen einzigen großen Männerwitz. Weidermann zählte fassungslos einige jener verkniffenen Anekdoten auf, die Walser in seinen Notizen aus den Jahren 1979 bis 1981 ständig mitteilt: wie Walser zwar endlos mit außerhäusigen Erotikabenteuern kokettiert, aber erbittert auf jede falsche Abschiedsgrußformel der Ehefrau Käthe reagiert. Wie verschwitzt er bei Aufeinandertreffen später Gruppe-47-Mitglieder auf die Busen der Kritikergattinnen schielt. Wie erbärmlich das Rudel seiner Konkurrentenfreunde überhaupt öfter mit Frauen umgeht und was es bedeutet, dass diese Männer einmal die Werte der alten Bundesrepublik repräsentiert haben sollen.

Von 1981 bis heute ist gesellschaftlich wie literarisch viel passiert, also hoffentlich zumindest. Grob einschätzen kann ich das, ich bin nämlich 1981 überhaupt erst geboren, in einer Sommerwoche, in der Walser laut Tagebuch mal wieder wie ein Getriebener seine Schwimmbahnen in den Bodensee prügelte, in hastigen Zeilen den Tod eines Freundes bedichtete und den Suhrkamp-Geschäftsführer Gottfried Honnefelder im Tennis überwältigte. Was bleibt von einem wie dem inzwischen 87-jährigen Walser, außer der Frage, warum er eigentlich auf den Fotos immer so kämpferisch gepanzert aussieht mit diesen wallenden Mänteln und dem Hut und den demonstrativ verwilderten Augenbrauen?

Mit seinen früheren Romanen vor der heutigen durchleuchteten Klassiker-zu-Lebzeiten-Phase komme ich nicht gut zurecht. Erzählt werden mit geradezu gewalttätiger Beredsamkeit Biografiestrudel aus der Geschichte der Bundesrepublik. Die Erzähler sind vor allem anderen monomanisch veranlagt: kleinbürgerliche Obsessivlinge, die offensichtlich hautnah an den Interessen ihres Autors entlang ungeheuer viel leiden, wahrnehmen, empfinden. Ein wenig ist es dabei wie mit flammend alles aussprechenden, jedoch jahrzehntealten Liebesbriefen: Innerlichkeit altert schlecht.

Für die Zeitgenossen der Romanveröffentlichungen müssen diese mit immensem Druck herausgeschleuderten Kunstwerke bedeutsame Botschaften enthalten haben, die von heute aus nicht wirklich nachzuvollziehen sind. Mir bleibt vor allem der Eindruck von ständiger anlassunabhängiger Wucht, sodass ich mich als heutiger Leser vor allem als Bewohner eines abgeklärteren, postwuchtigen Zeitalters fühle.

Abmilderung nützt wenig

Aber Walsers unüberbietbares Hauptprodukt war natürlich gar kein Roman, sondern er selbst. Jörg Magenaus ebenso kluge wie hundertprozentig zugewandte Walser-Biografie von 2005 ist letztlich auch urkomisch, weil sie ständig von Walsers literarischem Werk zu all seinen ununterbrochenen Konflikten, Kursänderungen und schließlich markerschütternden Skandalen überleiten muss. Wie bei einem höflichen Philologen, der einen fortwährend überkochenden Schnellkochtopf analysieren soll, hat das slapstickartige Züge.

Seit ein paar Jahren hat sich über dieses die heutige Bundesrepublik mitformende intellektuelle Brodeln Walsers die schlichte Formel eingeschlichen, er habe eben manchmal danebengelegen. Ich glaube nicht, dass solche verkehrsberuhigende Abmilderung viel nützt. Ebenso wenig halte ich die entgegengesetzte Reaktion für sinnvoll, bierernst auf den immer neue Volten in die Diskussionen hineinhämmernden Walser einzugehen, wenn dieser beispielsweise in diesem Sommer Banalitäten über sein Verhältnis zur Schoah äußerte. Im Jahr 2014 muss man nun wirklich niemandem für schlichte Erkenntnisse wie diese hier applaudieren: „Ich kann nichts dagegen tun, in mir dominiert die Mitteilung, dass wir dieses Volk umbringen wollten und zu Millionen umgebracht haben.“

Aus meiner heutigen Sicht hat die Friedenspreis-Rede von 1998 rein gar nichts an Brisanz verloren. Gerade in diesen Jahren des so lauthals ausgerufenen, angeblich ach so entspannten deutschen Gaucho-Nationalismus ist man gut beraten, an die beiden widerstreitenden Positionen von damals zurückzudenken: dass eine rein durchorganisierte Erinnerungskultur zur Sprechblasenproduktion neige, womit Walser sicher recht hatte. Wobei aber doch wohl noch viel mehr sein damaliger Antipode Ignatz Bubis recht hatte, wenn er davor warnte, den Umgang mit Auschwitz aus der kollektiven Verantwortung ins private Gewissen auszulagern.

Walsers Bestehen auf lediglich privatpersönlicher Schuld hatte paradoxerweise unbedingt kollektive Auswirkungen. Einerseits führte es begrüßenswerterweise zu Streit rund um Erinnerungsroutinen. Andererseits aber, und das wiegt für mich viel schwerer, spielte es durch die dammbrechende Aggression seiner Gefühlsbekundung einer neuen nationalkonservativen Erinnerungskultur in die Hände, die statt Mitgefühl und Interesse etwa an den Opfern des Holocaust lediglich die Gewissensberuhigung „normaler Deutscher“ von der Wehrmachtsgeneration an als Maß aller Selbstreflexion einsetzte. In einem Frühherbst, in dem eine sich so demonstrativ empathiefeindlich aufführende rechtspopulistische Bürgerpartei in die Landtage eingezogen ist, ist das kein Thema von gestern.

Aber zurück zu den Frauen, oder besser: zurück zur literarischen Schürzenjägergesellschaft der Walser-Notizen rund um jenes Jahr 1980, das man allerdings beim Lesen vieler Einträge eher für 1950 halten würde. Denn ja, Volker Weidermann hat durchaus recht, es ist schlicht schamlos, wie Walser neben vielen anderen treffenden Beobachtungen und Skizzen auch jedes einzelne Piefige-Unterwäsche-Gerücht mitprotokolliert und jetzt seiner Mitwelt wie nasse tote Ratten vor die Haustür klatscht. Ob Frau Koeppen im Schlafzimmer oder aber die Frauenversteh-Tipps eines Großkritikers („zwei Möglichkeiten, im Bett oder betrunken“), dem Leser bleibt wenig erspart. Aber dennoch führt es an Walsers Entwicklung vorbei, sein Analysieren, Gieren und Neiden ausschließlich als eine „Mad Men“-Welt minus Smartness zu beschreiben.

Dazu kriegt er hypersensibel viel zu viel mit und nimmt egozentrisch typische Informationen wie diese hier ständig viel zu ernst: „Siegfrieds Anruf: Reich-Ranicki, laut Greiner, wetzt das Messer gegen Handkes neues Buch.“ Es ist die Mixtur aus fortwährender Beleidigte-Leberwurst-haftigkeit und daraus resultierender Dünnhäutigkeit der Außenwelt gegenüber, die die Notizen so aufschlussreich macht.

Eine stickige Kulturwelt

So oft man auch denkt: Mensch, Walser, so schlimm ist das nun auch nicht, dass dein Buch in der Rundfunk-Bestenliste einen Platz abgesunken ist, so oft sind die durch solche Lächerlichkeiten ausgelösten Ehrpusseligkeiten doch letztlich explosiv. Man erlebt eine radikal stickige Kulturwelt, der sich ein bis vor kurzem noch als progressiv geltender Autor immer empfindsamer aussetzt. Er suhlt sich immer stärker in allen Zumutungen.

Was dabei herauskommen kann? Die Wendung hin zum – vermeintlich – jedem aufoktroyierten Meinungsdiskurs entrückten Paulskirchen-Redner lediglich seiner eigenen Gefühle ist jedenfalls in vollem Gange. Und diese Wendung hat, ob das nun gefällt oder nicht, mit uns allen zu tun. Denn das Zeitklima der Berliner Republik ist nun einmal ohne Walsers aggressiv empfindungsgetriebenes Fassöffnen des Redens über Deutschlandgefühle und angebliche Moralkeulen und die anschließenden Schlagabtausche kaum auszumalen.

Niemand muss Tagebücher lesen. Aber wer möchte, der weiß nach diesem hier zwei Dinge: Solche Sensibilitäten und Eitelkeiten, Verdruckstheiten und Feinnervigkeiten der alten Bundesrepublik bilden den Boden, auf dem wir heute stehen. Und einen kleinen Morast, den bilden sie an manchen Stellen auch.

Martin Walser: „Schreiben und Leben. Tagebücher 1979–1981“. Rowohlt, Reinbek 2014, 704 S., 26,95 Euro