Per Direktwahl in das höchste Staatsamt

Türkisches Verfassungsgericht stoppt Präsidentenwahl: Premier Erdogan will den Staatschef deshalb künftig vom Volk bestimmen lassen. Obwohl Neuwahlen noch nicht beschlossen sind, kämpfen die Parteien bereits um Stimmen

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Neuwahlen finde ich klasse.“ Der Gemüsehändler auf dem Wochenmarkt im Istanbuler Stadtteil Kuzguncuk ist Kurde und ein Anhänger der oppositionellen CHP. „Bei den Wahlen werden wir es den Mullahs zeigen“, meint er und lässt damit keinen Zweifel daran, was er von der regierenden AKP hält.

Beim Makler eine Straße weiter genau das umgekehrte Bild. In dem kleinen Büro starren drei Männer auf den Fernseher, wo gerade live die Rede von Ministerpräsident Erdogan vor der Fraktion seiner AK-Partei übertragen wird. Erdogan ist voll in Fahrt und bringt seine Anhänger schon einmal in Schwung. Als er sagt, das Urteil des Verfassungsgerichts, mit dem die Präsidentschaftswahl gestoppt wurde, sei „ein Schuss auf die Demokratie“ gewesen, klatscht der Makler. Die Immobilienhändler sind große Fans von Erdogan. „Das Urteil war zwar Unrecht“, meinen sie, „die jetzt beschlossenen Wahlen werden wir aber noch höher gewinnen als die letzten.“

Noch ist der Beschluss für Neuwahlen nicht offiziell gefallen, da ist der Wahlkampf schon in vollem Gange. Nicht nur Erdogan heizte in seiner gestrigen Rede die Stimmung erneut an, auch sein Gegenspieler, Oppositionsführer Deniz Baykal, setzt weiter auf Polarisierung.

Dabei ist zur Zeit eine ganze Reihe von Fragen offen, die vor Neuwahlen noch geklärt werden müssen. Seit das Verfassungsgericht am Dienstagabend die Präsidentschaftswahlen stoppte, fordert Erdogan, jetzt solle das Volk entscheiden. Statt den Präsidenten weiterhin durch das Parlament bestimmen zu lassen, soll künftig das Volk seinen Staatschef wählen. Dazu muss aber erst die Verfassung geändert werden, wofür Erdogan zumindest die Stimmen eines Teils der Opposition braucht.

Da der Chef der ANAP, Erkan Mumcu, die im Parlament durch 20 Abgeordnete vertreten ist, schon lange für eine Direktwahl des Präsidenten wirbt, kann Erdogan im Prinzip mit diesen Stimmen rechnen. Doch die ANAP will erst im Herbst das Volk an die Urnen rufen und zögert deshalb mit einer Zustimmung. Zudem ist überhaupt nicht geklärt, ob mit einer Direktwahl des Präsidenten auch die Kompetenzen zwischen Präsident und Parlament neu gewichtet werden sollen.

Sollen jedoch, wie Erdogan vorgeschlagen hat, bereits Ende Juni oder Anfang Juli gleichzeitig Parlament und Präsident gewählt werden, wird die Zeit knapp. Während die AKP sich von einem frühen Wahltermin erhofft, dass ihre Anhänger, noch unter dem Eindruck der Putschdrohung, jetzt leicht zu mobilisieren sind, drückt sie aufs Tempo. Demgegenüber will die Opposition Zeit gewinnen, um sich erst einmal neu zu formieren. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass doch zunächst ein neues Parlament und erst später ein neuer Präsident gewählt werden und der amtierende Staatschef Ahmet Necdet Sezer so lange im Amt bleibt.

Die bürgerlichen Rechtsparteien ANAP und DYP diskutieren über eine Fusion, um ihre Chancen bei den Wahlen zu erhöhen. Beide waren bei den Wahlen 2002 gescheitert und scheinen bereit, aus ihren früheren Fehlern Konsequenzen zu ziehen.

Trotzdem bleibt es ein großes Problem, dass sich wahrscheinlich zwischen dem moderat-islamischen Lager auf der einen und dem kemalistisch-nationalistischen Lager auf der anderen Seite in der verbleibenden Zeit bis zu Neuwahlen keine Formation der Mitte mehr bilden kann, obwohl ein großes Bedürfnis danach besteht. Am klarsten hat dieses Dilemma der Sänger und Polit-Barde Zülfü Livaneli auf den Punkt gebracht: „Wer es heute in der Türkei am schwersten hat, sind die, die Angst vor der Milli-Görüș-Ideologie der AKP haben, aber die auch keine Militaristen sind, die Baykals (Chef der CHP) Politik nicht hinnehmen können. Die, die sich vor einem Militärputsch fürchten und vor dem Anwachsen des blinden nationalistischen Terrors und die deshalb nicht wissen, wen sie wählen sollen. Wie man vielerorts in der Welt sehen kann, sind vernünftige Menschen, die sich nicht der Hysterie der Polarisierung ausliefern, leider zur Vereinsamung verurteilt.“

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