Fremdkörper und Brückenköpfe

Drei Häuser, drei Programme, ein Ziel. Auch wenn die Intendanten in Dortmund, Essen und Bochum verschiedene Ansprüche verfolgen – eines haben die Konzerthäuser der Kulturhauptstadt 2010 gemeinsam: das Thema Kultur im Wandel und Wandel durch Kultur

VON CHRISTIAN WERTHSCHULTE

„Dann machen wir hier den Boulez und verschieben dafür das“, sagt Benedikt Stampa zu seinem Assistenten und richtet den Blick auf die sich öffnende Tür: „Kommen Sie rein, können Sie rausgucken.“ Schwer fällt das nicht bei der Konstruktion des Dortmunder Konzerthauses. Eine große Glasfront gibt den Blick vom Foyer und den Büros auf die umliegenden Straßen des Brückviertels frei. Zwischen Brück- und Hansastraße bekamen Gymnasiasten vor zehn Jahren günstige Jeans, Hardcore-Fans ihre Vinylplatten mit amerikanischem Straight Edge-Punk und die örtliche Gothic-Szene ihre Lackklamotten. Ab 2002 konnte man im Laden des Konzerthauses schließlich Neue Musik, Klassik und Jazz erstehen.

Seitdem muss das Dortmunder Konzerthaus als Symbol des Wandels des ehemaligen Schmuddelviertels zu einem Szeneviertel dienen. „Wir sitzen auf dem Andreasgraben des Ruhrgebiets. Links und rechts sind Sozialbauten, wir haben überall Dönerbuden und Tattoo-Shops. Am Anfang waren wir kein Brückenkopf, sondern eine Art Fremdkörper“, erzählt Benedikt Stampa, seit 2005 Leiter des Neubaus. Ein Fremdkörper mit Erfolgsdruck. 50 Millionen Euro kostete die bauliche Aufwertung, die sich dann als chronisch defizitär erwies. Die Folge: Initiator Ulrich Vogt schmiss nach einem Zerwürfnis mit der regierenden SPD im Jahr 2005 das Handtuch und Kulturmanager Stampa übernahm das Haus. „Das Konzerthaus ist eine spezifische Ruhrgebietsphilharmonie. Hier zeigt sich in Zukunft, ob Wandel durch Kultur und Kultur im Wandel eine Chance hat“, sagt der 41-jährige Westfale.

Da sind sie wieder, die beiden Worte: „Kultur“ und „Wandel“. Kulturhauptstädtisch heißen sie „Kreativwirtschaft“ und verbunden ist mit ihnen eine Hoffnung: 50 Jahre Strukturwandel im Ruhrgebiet werden mit Jobs im kreativen Sektor zu einem guten Ende kommen. In Dortmund arbeiten dafür 35 MitarbeiterInnen im Konzerthaus am Programm zwischen Schostakovitsch-Zyklen und einem Pop-Abo, das mit ausgestöpselten Gitarren gediegene Abendunterhaltung verspricht. „Sowas kann man nur in Dortmund machen. Hier im Viertel ist ja Popmusik zu Hause. Das Publikum, das zu solchen Konzerten kommt, ist eigentlich unser Traumpublikum für klassische Musik: jung und überdurchschnittlich gebildet“, erzählt Stampa und gerät ins Schwärmen über die Möglichkeiten seines Hauses und die Offenheit der Dortmunder: „Es ist fast unsere Aufgabe, das Publikum ästhetisch zu erziehen. Hier ist das noch Entwicklungsarbeit. Wir können nicht nur fördern, sondern auch fordern. Wichtig ist, dass wir Ansprüche stellen.“

Und auch die Ansprüche an das Brückviertel schwinden nicht. „Laut Untersuchungen ist die Kriminalität gesunken“, fasst Stampa die Effekte der Stadtentwicklungsarbeit zusammen. Doch sie erscheinen brüchig. „Die Schmuddelszene erobert sich Meter für Meter zurück“, erklärte Anfang April die Westfälische Rundschau. Gemeint waren damit Punks, die wieder häufiger auf der Brückstraße gesehen werden, weil dort zwei Dönerbuden billiges Bier verkaufen. Manche Ansprüche sind halt leichter zu befriedigen als andere.

Nachholbedarf in Essen

Auch Michael Kaufmann hat einen Anspruch an seine Arbeit gestellt: „den roten Faden zu zeigen, wie vielfältig die Welt der Musik ist“, betont der Intendant der Essener Philharmonie. „Im Ruhrgebiet hat man da einen besonderen Nachholbedarf.“ In der Programmgestaltung schlägt sich das wie folgt nieder: An einem Abend spielt der Jazzer Ornette Coleman, am Tag darauf Helge Schneider und im Hinterzimmer werkelt Maurizio Kagel als „Artist in Residence“ an neuen Kompositionen. Für den gebürtigen Schwaben Kaufmann kein Widerspruch: „Mein einziger Anspruch ist: Wenn etwas in der Philharmonie stattfindet, muss es möglichst gut stattfinden.“

In der Philharmonie – das bedeutet in einem 100 Jahre alten Saalbau im Schatten der Bürotürme von RWE und RAG. Auch Krupp hat hier seine Spuren hinterlassen. Über 13 Millionen Euro flossen aus der Krupp-Stiftung in den Umbau des 2004 eröffneten Gebäudes. „Als ich als kleiner Dötz zum ersten Mal hier war, war die erste Reihe noch zehn Meter weiter oben“, erzählt Helge Schneider bei seinem Auftritt von der Bühne herab. Intendant Kaufmann bilanziert den 80 Millionen Euro teuren Umbau: „Es war schwierig, den Erwartungen der Essener gerecht zu werden.“ Städtebaulich hat man sich in Essen jedoch gegen das Modell Dortmund entschieden. Direkt neben dem Aalto-Theater liegt die Philharmonie, weit entfernt von den sozialen Brennpunkten der Stadt. Präsent ist man dort trotzdem. Seit anderthalb Jahren läuft ein Projekt im Stadtteil Katernberg, welches musikpädagogisch in den Schulalltag von Grundschülern hineinwirken will. „Für mich steht die Frage im Vordergrund, wie eine Philharmonie als selbstverständliches Inventar einer Stadt dafür sorgen kann, dass dort Zukunft entsteht und die Stadtteile nicht abkippen. Sonst ist die Philharmonie bald ein soziokulturelles Zentrum für Besserverdienende“, erklärt Kaufmann und fügt hinzu: „Hier auf dem Hügel hat das Publikum seinen angestammten Platz wiedergefunden.“

Den angestammten Platz der Bochumer Symphoniker zu finden, ist keine leichte Aufgabe. Im Stadtteil Weitmar, neben der Großraumdisco „Zeche“, liegt ihr Probensaal, ihre Aufführungen finden im Bochumer Schauspielhaus oder dem Audimax der Universität statt. Anfang März fiel dann die Entscheidung: Der Rat der Stadt Bochum gibt seine Zustimmung für einen Neubau im Zentrum. „Mit dem neuen Saal heißt es: ‚The Sky is the Limit‘. Vorher waren wir wie ein Tennisspieler, der ohne Schläger spielen musste“, erzählt Generalmusikdirektor Steven Sloane.

Der „Bochumer Sound“

Der Entscheidung vorausgegangen war ein langer Streit um die Finanzierung des Baus zwischen Stadt und Symphonikern. Entscheidend für seine Lösung war die Zusage des Lotteriebetreibers Norman Faber über eine private Spende in Höhe von fünf Millionen Euro, gebunden jedoch an die Zusage, einen Bauplatz in der Innenstadt zu finden. Wenig verwunderlich, dass Kritiker den starken Einfluss von Privatpersonen auf die Entscheidungen der Kommunalpolitik beklagen. Zumal die Finanzierung noch nicht geklärt ist. Bis zum Baubeginn 2008 müssen weitere sieben Millionen Euro eingeworben werden. Erst dann kann das weiße Modell, das Sloane in seinem Büro stehen hat, errichtet werden. „Wir wollen unsere Arbeit verbreiten, besonders an Familien und junge Leute. Im Moment können wir, zum Beispiel, keine Konzerte für Schulklassen anbieten, weil Schauspielhaus und Audimax tagsüber belegt sind.“

Auch städteplanerisch stecken einige Überlegungen hinter dem neuen Standort. Der Marienplatz liegt an der Rückseite des Bermuda-Dreiecks, wo die Symphoniker ein jährliches Konzert geben. Nach fehl geschlagenen Cineplex-Plänen liegt er brach. Geplant ist ein Saal mit 1.000 Zuschauern für Symphoniker und Musikschulen, der dem „Bochumer Sound“ gerecht wird. „Dieser Sound ist sehr leidenschaftlich, emotional und energiegeladen“, erklärt Sloane. „Stilistisch sind wir an anderen Arten von Musik interessiert, dem Ausradieren der Grenzen zwischen E- und U-Musik. Anders als in Dortmund stehen bei uns Pop und Klassik nicht neben einander, sondern werden vereint.“ Ob dies auch für das Publikum gilt, lässt er offen.