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SCHLIMME DINGE PASSIEREN, OBWOHL SIE NICHT SEIN DÜRFTEN. KÖNNEN SIE SICH DAS VORSTELLEN?Ein bisschen mehr Fantasie, Hannelore!

JOSEF WINKLER

China fordert ein Ende der Proteste in Hongkong, heißt es in den Nachrichten. Zitiert wird das Zentralpolitkackkomitee oder wie das heißt: „Auch junge Studenten müssen sich an das Gesetz halten.“

Oh mei, China – ja, das Problem kennen wir auch. Die jungen Studenten, diese Racker! Da redet man hin und redet man hin … Aber die haben ihren eigenen Kopf, diese jungen Studenten. Obwohl, letztens im Zug, da war einer – wie ich der Konversation mit seinen Kumpels entnehmen durfte, ein 20-jähriger Jurastudent im dritten (!) Semester, G8 sei Dank –, der hat so einen geistlosen Mist geredet, dass man annehmen durfte, das Bürscherl sei zu unreif, um sich überhaupt intellektuell damit auseinanderzusetzen, das Gesetz zu brechen – oder zu einer Demo zu gehen.

Gern hätte ich ihn gefragt, warum er Jura studiert, ob er da irgendeine Berufung verspürt, aber ich hatte Angst vor der Antwort: „Weil man da super verdient“, denn dann hätte ich ihn aus dem Zug schmeißen müssen, und es hilft ja nichts: Auch alternde Kolumnisten müssen sich an das Gesetz halten.

Es halten sich doch alle an die Gesetze, oder? Unvorstellbar, dass sich jemand nicht an die Gesetze hält! Wie – das zu sagen finden Sie naiv? Nicht nur naiv, sondern idiotisch? Soso. Hm. Man müsste mal die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft fragen, wie sie das sieht. Die scheint nämlich Probleme mit ihrer Vorstellungskraft zu haben. Dabei wird die Fantasie doch schon bei Kindern gefördert, weil sie wichtig ist, um Empathie, Kreativität und Problemlösungsdenken zu entwickeln – gut, alles nicht so vorrangig wichtig in der Politik.

Aber mich hat’s doch überrascht, nach dem Bekanntwerden der Misshandlung von Flüchtlingen durch privates „Sicherheitspersonal“ zu hören, Hannelore Kraft habe sich „nicht vorstellen“ können, „dass Menschen, die dort beschäftigt sind, in dieser Weise mit Flüchtlingen umgehen“. Wo die doch da beschäftigt sind! Gut, vielleicht einfach Worthülsen, um Betroffenheit zu verdeutlichen. Aber es wäre schon interessant, was sich Hannelore Kraft noch alles nicht vorstellen kann. Unvorstellbar, dass Soldaten im Krieg Gräuel begehen – es gibt doch die Genfer Konventionen! Unvorstellbar, dass Pfleger in Altenheimen Demenzkranke quälen – das sind doch deren Schutzbefohlene! Unvorstellbar, dass Geistliche Internatsschüler missbrauchen – sie sind doch Männer Gottes! Unvorstellbar, dass Ehemänner ihre Frauen schlagen – die lieben die doch, sonst hätten sie ja wohl nicht geheiratet! Unvorstellbar, dass Kinder sich gegenseitig wehtun – die sind doch so süüüüß!

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | KOLUMNE@TAZ.DE

DienstagJacinta NandiDie gute Ausländerin

MittwochMatthias LohreKonservativ

DonnerstagMargarete StokowskiLuft und Liebe

Freitag Jürn Kruse Fernsehen

MontagAnja MaierZumutung

Oder andersrum: Wer sich nicht vorstellen kann, dass unterbezahlte, frustrierte Grobschlächtige aus einer schattenumwobenen Subunternehmerbranche, in der es schon vom Sujet her „nicht zimperlich“ zugeht und die dazu bekanntermaßen ein Problem mit Rechten hat, Leute misshandeln, die von Gesellschaft und Politik als lästige Schmarotzer und Menschen dritter Klasse gestempelt sind, der sollte vielleicht nicht ein Land regieren, sondern Gurken züchten. Obwohl, selbst dafür bräucht’s ein bisschen Fantasie.

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