LESERINNENBRIEFE
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Glaubwürdigkeit verspielt

■ betr.: „Kluge Thesen, mies vorbereitet“, „Anlauf zum langen Angriff“, taz vom 2. 10. 14

Das schöne Zitat von Herrmann Scheer zur Wiedereinführung der parlamentarischen Demokratie muss sich in Greffraths „Schlagloch“ sehr verloren vorkommen, sein Urheber sich vielleicht im Grabe umdrehen: Mit diesen Parteien gibt es keinen Neuanfang.

Hartz IV, Altersarmut und Rentenlüge, Jugendarbeitslosigkeit, asoziale Bildungspolitik und Ungerechtigkeit auf allen Ebenen; Balkankrieg, Militarisierung der Politik zur Sicherung des fortgesetzten Ressourcendiebstahls, mörderische Asylpolitik außerhalb und unmenschliche innerhalb der nationalen Grenzen (danke Lalon Sander für den klugen Beitrag „Gute Nacht, liebes Bürgertum“ vom 1. 10. 14), Verelendung von Millionen in der EU durch deutsches Sozialdumping; Billionen Steuergelder für Banken und ihre Absahner, progressive Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben, Aufgabe politischer Verantwortung durch ihre Abtretung an Lobbyisten und durch Korruption – das sind nur einige Ergebnisse der für die meisten Menschen desaströsen Politik dieser drei Parteien. Nein, ganz ehrlich, wenn ein parlamentarischer Neuanfang überhaupt Sinn machen würde und nicht ein ganz anderes, wirklich neues – mehr basisdemokratisches – Politikmodell sich als notwendig erweist, dann nicht mit diesen Organisationen und ihren Figuren. Sie haben, gezielt und systematisch, die Idee einer sozialen Demokratie verkrüppelt, aus ihr ein Lügengespinst werden lassen, sie haben ihre Glaubwürdigkeit längst verspielt. Ceta und TTIP sind der aktuelle empirische Beleg für diese Schlussfolgerung.

Aber die Linken, die sind doch anders? Waren sie, als es 1989/90 die „Runden Tische“ gab, aber sie haben sich akklimatisiert, sonst käme Greffrath sicherlich nicht auf die Idee, sie in seine Überlegungen einzubeziehen. Herr Ramelow will Ministerpräsident werden, da muss dann, politisch-westdeutsch korrekt, der „Unrechtsstaat“ herhalten. Ja, da gab es manches Unrecht, zweifellos – wie in jeder Gesellschaft in jedem Staat, nicht nur die Stasi-Bespitzelung. Aber weshalb kein Wort über den Unrechtsstaat, in dem er auf der politischen Karriereleiter noch ein Stückchen höher klettern möchte? Über die politischen, sozialen, bildungspolitischen, materiellen, gesundheitlichen Ungerechtigkeiten, über Handeln von Verfassungsschutz und BND jenseits von Recht und Gesetz seit Jahrzehnten?

Und dann die DDR: Kein Wort über das Wirken von Verfassungsschutz und CIA dort; keins auch über die Millionen Menschen, die von der Idee, den Sozialismus aufzubauen, fasziniert waren; kein einziges über ein Bildungssystem, das dem westdeutschen haushoch überlegen war; und über ein gesellschaftliches Klima, das keine Angst vor Arbeitslosigkeit oder sozialem Elend kannte; und über das, was die „Jungen Pioniere“ nicht an Indoktrination, sondern an sozialem, kulturellem und menschlichem Reichtum vermittelten; und über eine kulturelle Produktionsvielfalt, die über Stasi und politische Betonköpfe weit hinaus reichte und hinaus wies.

Nein, auch einer Linken, die nicht einmal zu einer gerechten Beurteilung des Staates, in dem die meisten aufgewachsen sind, fähig ist, können wir unsere Zukunft nicht anvertrauen. Nachplappern, was zum 3. Oktober in Feiertagsreden und von geschichtsklitternden Medien von denen, die die DDR nur vom Hörensagen kennen, an Halb- und Unwahrheiten getönt wird, Kotau statt aufrechtem Gang, sind Kumpanei mit den politisch Arrivierten und ihrem postdemokratischen, kriegerischen und asozialen Selbstverständnis. Diese Anachronismen bergen keinen Keim für einen Neuanfang.

GÜNTER REXILIUS, Mönchengladbach

Viele persönliche Erfahrungen

■ betr.: „Ramelow macht einen Fehler“, Interview mit Dagmar Enkelmann zum „Unrechtsstaat!“, taz vom 2. 10. 14

Liebe Frau Enkelmann, wie würden Sie denn die DDR nennen? Rechtsstaat? Klassenlose Gesellschaft? Demokratie? Zwangsherrschaft? Autokratie? Republik? Oder vielleicht doch, wie in Ihrem Interview genannt, „Diktatur“. Würde möglicherweise sowieso besser passen, klingt auch nicht so komisch wie „Unrechtsstaat“.

Und im Übrigen glaube ich, dass persönliche Erfahrungen schon reichen, um ein pauschales Urteil zu fällen, zumal es ganz schön viele solcher persönlicher Erfahrungen gibt. Ich sage nur Hohenschönhausen und Schießbefehl. HANS MENNINGMANN, Reinheim

Was darf eine Staatsmacht?

■ betr.: „Ramelow macht einen Fehler“, taz vom 2. 10. 14

Ein System, das Menschen an der Grenze erschießt, Wahlergebnisse fälscht, Menschen vom Studium ausschließt weil sie den Wehrdienst verweigert haben und seine Bürger ausspionieren lässt von Nachbarn, darf und muss man als Unrechtsstaat bezeichnen. Und wenn nicht: dann möchte ich mir nicht vorstellen, was eine Staatsmacht noch alles tun „darf“ bevor der Begriff Unrechtsstaat (endlich) angewandt werden darf. WILLI WAGNER, Alsbach

Auf den Punkt gebracht

■ betr.: „Unrechtsstaat“, „Liebeserklärung von Heiko Werning,taz vom 4. 10. 14

Das war wirklich auf den Punkt gebracht. Der Westen entscheidet, welchen Ländern er die „Unrechtsstaat“-Kappe überstülpt, und startet seine Kreuzzüge. Eigene eklatante Menschenrechtsverletzungen und Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien werden unter einem gigantischen Lügengebäude auf perfide Weise reingewaschen.

GABRIELE MEIER-SESKE, Berlin