Wir wollten Öffentlichkeit

FRIEDENSKREIS Evelyn Zupke saß am 7. Oktober 1989 am Kontakttelefon in der Gethsemanekirche

Im Oktober 1989 war ich 27 Jahre alt. Ich war alleinerziehend mit meinem kleinen Sohn und arbeitete als Heilerziehungspflegerin bei der evangelischen Kirche. Zwei Jahre zuvor war ich aus Vorpommern nach Berlin gezogen, ich wollte weg aus der Provinz – hin zu Leuten, die anders waren. Die habe ich dort auch gefunden. Ich habe mitgemacht im Weißenseer Friedenskreis. Diese kirchliche Gruppe hat nach der Kommunalwahl 1989 öffentlich gemacht, dass das Ergebnis gefälscht worden war: 98,85 Prozent waren ein absurdes Ergebnis, gemessen an der damaligen Stimmung im Land.

Auch nach der Wahl protestierten wir an jedem 7. des Monats um 17 Uhr auf dem Alexanderplatz. Wir waren eine kleine Gruppe, wurden immer wieder abgeführt. Wir wollten Öffentlichkeit – das schärfste Druckmittel auf die DDR-Führung.

Auch am 7. Oktober waren wir auf dem Alex verabredet. Ich bin an dem Tag nicht mitgegangen, sondern habe mich im Gemeindehaus der Gethsemanekirche ans Kontakttelefon gesetzt. Dort liefen Informationen zusammen. Meinen Sohn hatte ich zu einer Freundin nach Vorpommern gebracht.

Überall im Land brodelte es schon, in Leipzig waren Demonstranten verhaftet worden. In Berlin organisierten wir daraufhin mit den Leuten von der Umweltbibliothek und der Initiative Frieden und Menschenrechte Fürbittandachten und Fastenaktionen. Wir forderten die Freilassung der Inhaftierten in Leipzig. Die einzige Gemeinde, die uns aufnahm, war die Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg.

Dort sind wir am 2. Oktober eingezogen. Am 7. Oktober hatte ich Dienst am Kontakttelefon. Ein Freund von der Umweltbibliothek rief vom Alex aus an. Statt der üblichen zwanzig seien sie plötzlich tausend Leute, rief er. Da wussten wir noch nicht, dass daraus ein riesiger Demonstrationszug werden würde. Wir konnten auch nicht wissen, wie das alles enden würde. Am selben Abend prügelten Polizisten auf Demonstranten ein, das Gerücht vom Schießbefehl machte die Runde. Leute wurden wahllos verhaftet, es herrschte große Angst.

Über das Kontakttelefon fragten die Leute nach ihren Freunden und Verwandten, sie brauchten Trost und Beratung. Es kamen Informationen aus Dresden, Leipzig, Plauen rein. Die staatliche Gewalt nahm immer mehr zu. Erst am 9. Oktober, abends um halb acht, kam die erlösende Nachricht aus Leipzig: Es ist okay, es wird kein Blut fließen. Das Blatt hatte sich gewendet.

Die Ereignisse vom 7. Oktober bedeuten mir viel. Was passiert ist, hat unser aller Leben verändert. Geblieben ist diese Haltung: Man soll nicht immer denken, dass etwas unmöglich ist. Ich gehe noch heute manchmal Sachen an, wo andere sagen, was soll das? Ob es dann wirklich möglich ist, ist eine andere Frage. Protokoll: AM