„Es ist nicht Pokern, sondern Rechnen“

Josef Esser, Politikwissenschaftler und Gewerkschaftsexperte, hält den IG-Metall-Abschluss für moderat

JOSEF ESSER, 64, Gewerkschaftsexperte, ist Politikwissenschaftler an der Uni Frankfurt/Main.

taz: Herr Esser, IG Metall und Arbeitgeber haben mal wieder ein Verhandlungsmarathon durch die Nacht hingelegt. Muss dies Ritual immer sein?

Josef Esser: Offensichtlich ja. Wäre ich Feministin, würde ich sagen: Das ist dieses typische Männlichkeitsgehabe: die Nacht durchmachen, Stärke zeigen, kein Schlaf. Da wird ein bisschen Krieg nachgespielt.

Sie sind aber kein Feminist.

Richtig.

Also: Ritual oder nicht?

Man hat vielleicht eine falsche Vorstellung von diesen Tarifverhandlungen. Das hat dann in so einer Nacht auch nichts mit Pokern zu tun. Sondern nur mit Rechnen. Die sind fast die ganze Zeit damit beschäftigt. Das ist höhere Mathematik. Es gibt in so einem Tarifvertrag so viele unterschiedliche Lohngruppen, für die man alle Komponenten eines möglichen Abschlusses durchrechnen muss: Wie wirkt sich die prozentuale Steigerung oder die Laufzeit oder eine Einmalzahlung auf die Lohngruppen aus?

Hat die IG Metall gut gerechnet?

Ja. Die IG Metall hat zumindest für die ersten zwölf Monate eine Vier vor dem Komma erreicht – gutes Geld für die Beschäftigten. Sie bewegt sich im gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsrahmen und hält die Regeln ihrer Lohnformel ein: Gesamtwirtschaft plus Inflation. Beides wird auf jeweils 2 Prozent geschätzt. Das kommt also hin.

Und die Arbeitgeber?

Die Arbeitgeber haben wegen der längeren Laufzeit und der geringeren Lohnerhöhung von 1,7 Prozent in der zweiten Tarifstufe für das Geschäftsjahr 2008 eine gewisse Planungssicherheit. Insofern ist der Abschluss moderat und zeigt die verantwortliche Lohnpolitik der Gewerkschaft.

Im Herbst sind Vorstandswahlen bei der IG Metall. Berthold Huber soll – laut Absprache – Jürgen Peters nachfolgen. Huber ist als zweiter Vorsitzender für Tarifpolitik zuständig. Stand er besonders unter Druck?

Ich glaube schon, dass der Abschluss Hubers Chancen für das Amt des IG-Metall-Chefs eher erhöht hat. Erstens: Mit Jörg Hofmann …

als Bezirksleiter von Baden-Württemberg Nachfolger von Huber …

… hat ein Mann aus Hubers Lager den Abschluss hinbekommen. Das ist strategisch nicht unwichtig. Zweitens hat die Basis schon einen Abschluss von um die 4 Prozent erwartet. Drittens musste er aus Prestigegründen höher ausfallen als bei der IG Chemie. Huber brauchte also diesen guten Abschluss.

So entscheidet eine gute Tarifpolitik über die Qualifikation für das Amt des Chefs?

Ja. Huber hat es geschafft, seit 2004 dem Flächentarifvertrag eine höhere Flexibilität zu geben – etwa über betriebliche Öffnungsklauseln. Er hat ein System von Zentralität und Dezentralität etabliert.

Zentralität? Dezentralität?

Hubers Strategie ist es, die Betriebsräte und Vertrauensleute stärker in eine betriebsnahe Gestaltung der Tarifpolitik einzubeziehen. Es sollen also Abweichungen nach oben oder unten – je nach der wirtschaftlichen Lage der Unternehmen – möglich sein. Und zwar, ohne dass die Gewerkschaft die Kontrolle darüber verliert.

INTERVIEW: THILO KNOTT