Wenn der Zappel-Philipp erwachsen wird

Nicht nur Kinder, sondern auch Männer und Frauen können unter ADS leiden, dem „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“. In der Familie von Anette Schwarz aus Hamburg nehmen die Mutter und beide Söhne das Medikament Ritalin, um ihren Alltag in den Griff zu bekommen

„Seit wann läuft denn die Musik?“, fragt sie. Dann reißt sie hastig die Tür auf und zitiert ihre Söhne zur Tabletteneinnahme herbei

VON ELKE SPANNER

Dass plötzlich Musik anspringt, bekommen Anette Schwarz und ihre Freundin Michaela Ludwig* gar nicht mit. Das dumpfe Stampfen der Bässe reiht sich ein in die Geräusche im Raum. Die sechs Computer auf dem Schreibtisch summen vor sich hin wie ein Hochspannungmast, darüber liegen die Stimmen der beiden Frauen, die eifrig aufeinander einreden. Erst Minuten später, in einer Atempause, dringen die Töne zu Anette Schwarz vor. Sie blickt auf, als sähe sie ihr Wohnzimmer zum ersten Mal. „Seit wann läuft denn die Musik?“, fragt sie. Dann reißt sie hastig die Tür zum Nachbarraum auf und zitiert ihre Söhne zur Tabletteneinnahme herbei. Ohne die Erinnerung durch die Musik, die zur programmierten Zeit anspringt, würde sie das immer vergessen, sagt die 40-Jährige.

Anette Schwarz ist trotz ihrer Zartheit eine resolute Frau. Dennoch ist es für sie eine Leistung, dass sie es schafft, ihren Alltag zu organisieren. Sie braucht Hilfe dafür. Schwarz nimmt Tabletten, die ihr ermöglichen, die Reize um sich herum so zu fokussieren, dass sie sich auf eine Sache konzentrieren kann. Früher, sagt sie, sei für sie vollkommen normal gewesen, „wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend zu rennen und am Abend nicht zu wissen, was ich den ganzen Tag gemacht habe“. Das früher ist noch nicht lange her.

Bis vorigen Sommer fand Schwarz, dass sie „irgendwie anders ist“. Sie wusste nur nicht, warum. Wollte sie die Küche aufräumen, stand sie eine Minute später im Badezimmer, weil sie den ursprünglichen Plan schon wieder vergessen hatte. Hatte sie einen Satz angefangen, war ihr mittendrin entfallen, was sie sagen wollte. Sie redete dann ziellos drauflos. Eine Warteschlange an der Kasse im Supermarkt – kaum auszuhalten. Ihr innerer Motor war nicht bereit, für die Zeit des Wartens einen Gang herunter zu schalten. Oft verfluchte sie sich und ihre Zerstreutheit, die den Alltag zum unüberwindbaren Problem werden ließ. Bis ein Psychiater ihr eine Diagnose präsentierte, auf die sie selbst kaum gekommen wäre: Anette Schwarz hat ADS, das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom.

Eine erwachsene Frau mit einer Kinderkrankheit? Zunächst hat sie das kaum glauben wollen. Sie kannte das Krankheitsbild. Ihre beiden Söhne hatten zwar die gleiche Diagnose bekommen. Sie wusste, die Brüder, deren Wildheit sie früher oft zur Weißglut gebracht hatte, haben ADS. Dass aber auch Erwachsene darunter leiden können, wusste sie nicht. Sie hatte geglaubt, dass das Problem sich bei Kindern verwachsen würde, mit der Pubertät vielleicht. Seit vorigen Sommer nun nimmt bis auf den Vater die ganze Familie Ritalin – ein Medikament, das als Psychopharmakum gerade bei der Vergabe an Kinder umstritten ist.

Der Kaffee ist längst kalt. Die Kuchenstücke liegen vergessen auf dem geblümten Teller, auf dem Schwarz sie angerichtet hat. Anette Schwarz und Michaela Ludwig haben keine Zeit zum Essen. Immer wieder fallen sie einander ins Wort. Die beiden kennen sich erst seit kurzem, seit sie sich in einer Selbsthilfegruppe begegneten. Deshalb rührt ihr Redetempo nicht nur daher, dass beide ADS haben, wofür Ungeduld und Unkonzentriertheit als typisch gelten. Sie sind auch erleichtert darüber, eine Diagnose erhalten zu haben, die es ihnen ermöglicht, sich offen zu ihren Problemen zu bekennen. In der Erzählung der anderen erkennen sie sich selbst wieder.

So reiht sich im Gespräch eine Episode ihres Lebens an die nächste, als müssten sie ihr ganzes Leben aufarbeiten. Alles, was bisher geschah, erscheint durch die Diagnose ADS in einem anderen Licht. Der berufliche Werdegang von Michaela Ludwig zum Beispiel: Als Kind wollte sie Schauspielerin werden. Dann hat sie Archäologie studiert, träumte später von einer Karriere als Musikerin. Jetzt ist sie Sozialpädagogin. Kurz: Der Weg vom Kindertraum zur Realität einer Erwachsenen, die Geld verdienen muss. Für Michaela Ludwig aber ist ihre Biografie nun ein Schicksal, mit dem sie sich abfinden muss. „Wenn ich die Diagnose früher bekommen hätte, wäre mein Leben anders verlaufen.“

Sich die Alltagsprobleme mit einer Erkrankung erklären zu können, ist verlockend und gefährlich zugleich. Beide Frauen berichten, dass es für sie erleichternd ist, sich die Schwierigkeiten nicht länger mit persönlicher Unfähigkeit erklären zu müssen. Früher haben sie sich oft für das Chaos um sich herum geschämt. Schwarz ist mit ihren Söhnen nicht mehr in öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren, weil ihr zu peinlich war, dass immer einer von beiden den ganzen Bus aufmischte und sie nicht in der Lage war, die Situation in den Griff zu bekommen. Für solche Probleme eine medizinische Ursache verantwortlich machen zu können, beruhigt. Einerseits.

Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, alles medizinisch zu erklären, was auch ein Alltagsproblem sein kann. Am Vormittag hat der Ehemann von Anette Schwarz etwas vergessen. „Das kann doch passieren“, hat er erwidert, als sie es ihm vorgehalten hat. Wann aber ist eine solche Verhaltensweise noch normal? Wenn es einmal die Woche passiert, einmal am Tag? Ohne das Wissen um ADS stünde die Frage nicht im Raum. Vergesslichkeit ist lästig, mehr nicht. Schwarz aber hat ihn geneckt, dass er wohl auch „ein ADSler“ sei.

Anette Schwarz ist froh darüber, dass sie und die Söhne im Alter von neun und elf Jahren Ritalin bekommen. Dadurch sei ihnen möglich, sich auf eine Sache zu konzentrieren und die eigenen Gefühle zu beherrschen. Früher habe sie sich morgens gefreut, zur Arbeit fahren zu können, um ihrem Zuhause zu entfliehen. Jetzt habe sich die Situation entspannt. Ihre Söhne seien inzwischen in der Lage, Konflikte im Gespräch zu lösen, anstatt wie zuvor nur durch Geschrei. Ihre Freundin Michaela Ludwig hingegen nimmt noch kein Ritalin. Auch sie brennt darauf, das Medikament zu bekommen. In Hamburg aber gibt es nur wenige Spezialisten für Erwachsenen-ADS, und bei denen ist die Warteliste für einen Termin lang. „Hamburg ist da echtes Notstandsgebiet“, sagt Ludwig.

Bis dahin sei sie gezwungen, ein Doppelleben zu führen: In ihrem Job als Sozialpädagogin kann sie sich gerade noch zusammenreißen – ihren Berufsalltag bewältigt sie. Zu Hause aber versinkt sie in Unordnung: Nie würde sie jemanden unangemeldet in ihre Wohnung lassen, sagt die 47-Jährige. Die dunkelhaarige Frau mit der randlosen Brille wirkt so gepflegt und distinguiert, dass diese andere Seite an ihr nur schwer vorstellbar ist.

Prüfend lässt sie ihren Blick durch das Wohnzimmer der Freundin gleiten. Über die sechs Computer des Ehemannes, die so viel Platz einnehmen, dass das Sofa mit den Sesseln in eine Ecke gezwängt werden musste. Über den mannshohen Kühlschrank im Coca-Cola-Design, auf dem sich ein Berg aus Ablagekörben auftürmt. Die Einrichtung ist eigenwillig, doch es liegt kaum etwas herum. „Das hier ist aufgeräumt“, nickt Ludwig dann anerkennend. „Bei mir sieht es viel schlimmer aus.“

Eine ADS-Erkrankung entwickelt sich nicht erst im Erwachsenenalter. Wer als älterer Mensch darunter leidet, war schon als Kind ein Zappelphilipp. Wissenschaftler haben ermittelt, dass elf Prozent der ADS-Kinder später noch unter den Symptomen leiden. Eine andere Studie kam auf eine Quote von 30 bis 50 Prozent. Fachleute gehen davon aus, dass 1,5 bis drei Prozent aller Erwachsenen ADS haben. Doch nur bei den wenigsten wird diese Diagnose gestellt.

Den Grund sieht der Arzt Dieter Claus darin, dass die Symptome unspezifisch sind. Es sind bislang nur einzelne Auffälligkeiten als typisch definiert: Unaufmerksamkeit, Ablenkbarkeit und Impulsivität, ein extrem hohes oder niedriges Aktivitätsniveau oder auch beides im Wechsel. Zudem geht die Erkrankung meist mit weiteren medizinisch definierten Störungen einher. In seinem Buch „A.D.S. Das Erwachsenenbuch“ erklärt er, dass im Erwachsenenalter insbesondere Affektstörungen auftreten, wie Depressionen, Zwänge und Ängste – nicht selten infolge der Frustrationen, die ein ADSler als Kind erlebte. Diese Erkrankungen sind in der Medizin bekannter als Erwachsenen-ADS und werden schneller diagnostiziert.

Außerdem sind ADSler als Patienten zunächst unauffällig, eben weil die Probleme alltäglich erscheinen. Und weil viele einen Weg finden, trotzdem einigermaßen durch den Alltag zu kommen. Anette Schwarz ist von Beruf Buchhalterin. Sie hat ihren Arzt gefragt, wie es kommt, dass sie ausgerechnet einen Beruf seit vielen Jahren bewältigen kann, in dem Struktur und Ordnung wesentlich sind. Er hat ihr geantwortet, dass das ihre Strategie sei, die Probleme zu beherrschen: „Das gibt Halt in diesem ganzen Chaos.“

* Name geändert