berliner szenen Baumblütenfest

Spitzbuben in der S-Bahn

Zweimal im Jahr besuche ich eine alte Tante in Schlachtensee, da bekomme ich Portwein als Aperitif, Waldorfsalat als Vorspeise und zum Hauptgang Ragout fin. Am Schluss gibt es Kompott und dann noch einmal Bowle. Diese längst ausgestorbenen Gerichte und Getränke serviert meine alte Tante so, als hätte sie alles erst am Morgen auf dem Schwarzmarkt ergattert. Obwohl sie sonst sehr vornehm ist und den Bürgersteig immer „Trottoir“ nennt, bekommt sie während des Essens etwas Konspiratives und nickt mir verschwörerisch zu. Wenn wir die Bowle ausgetrunken haben, will sie mir oft Taxigeld zustecken, weil es doch weit nach Friedrichshain ist und auf dem Weg zur S-Bahn Spitzbuben unterwegs sein könnten. Natürlich bin ich in Schlachtensee noch nie Spitzbuben begegnet – gegen Mitternacht ist dort niemand mehr auf der Straße.

So auch gestern, als ich das Taxigeld nicht annehmen wollte, abends in die S-Bahn am Schlachtensee stieg und mich wunderte, warum sie um diese Uhrzeit so voll war. Horden von betrunkenen Leuten grölten zwischen vier oder fünf gesitteten Fahrgästen. Baumblütenfest in Werder, erklärte mir ein nüchterner Herr und zeigte auf einen komplett abgestürzten jungen Mann. Der torkelte verzweifelt von einem zum anderen und hielt allen sein Handy vor die Nase. Ich fragte ihn, ob ich ihm helfen könne. Ja, antwortete er, ich solle seiner Freundin eine SMS schreiben, er sei zu betrunken.

„Sitze in der Badewanne und spiele an mir rum. Wann kommst Du? Deine Janine“ stand auf dem Display. Die Nachricht war von 11 Uhr morgens. Arme Janine, bestimmt war sie schon ganz verschrumpelt in ihrer Badewanne. „Ich werde Dich immer lieben. Dein Spitzbube“, habe ich ihr geantwortet. JUTTA RAULWING