Reanimierte Traditionen

Ein geläuterter 1. FC Magdeburg ist nach einer überstandenen Insolvenz und Jahren in den Niederungen des Amateurfußballs auf dem allerbesten Wege, in die Zweite Bundesliga aufzusteigen

Mit Grausen denkt der Präsident zurück an die Tournee über die Dörfer. An das Mitleid und die Häme

AUS MAGDEBURG RONNY BLASCHKE

Es war ein bisschen wie in alten Zeiten. Zwei Stunden vor dem Anpfiff war die Magdeburger Innenstadt für Autos kaum mehr passierbar. Die überfüllten Straßenbahnen mussten ihre Fahrt vor der Elbüberquerung stoppen, weil hunderte Fans die Brücke in Beschlag genommen hatten. Der 1. FC Magdeburg, einst Stolz der Stadt, feiert nach Jahren der Trauer die Befreiung aus dem schwarzen Loch der ostdeutschen Kultvereine. Und was hätte es für seine Fans Schöneres geben können, als die Renaissance mit einem 3:1 gegen Union Berlin zu feiern, gegen einen alten Rivalen.

Die DDR-Oberliga ist seit fast zwei Jahrzehnten ein Fall fürs Antiquariat, die mitreißenden Duelle beider Mannschaften sind das noch lange nicht. Die ohrenbetäubenden Gesänge und die feindseligen Verse haben auch den Abriss des brüchigen Ernst-Grube-Stadions überlebt. Im schmucken 30-Millionen-Neubau an der gleichen Stelle aber scheint der 1. FC Magdeburg wie verwandelt zu sein. Fast 20.000 Zuschauer, die meisten in Blau und Weiß gekleidet, bejubelten am Samstag das zehnte Spiel hintereinander ohne Niederlage. Magdeburg liegt auf dem zweiten Aufstiegsplatz in der Regionalliga Nord, punktgleich mit Tabellenführer St. Pauli und bei vier noch ausstehenden Spieltagen mit drei Punkten Abstand zu Platz drei. Der zweite Durchmarsch innerhalb eines Jahres, von der Oberliga in die Zweite Liga, ist kein kühner Traum mehr, sondern im Bereich des Möglichen.

Dirk Heyne, seit 2003 Magdeburgs Trainer, hat dafür nur ein müdes Lächeln übrig: „Einigen wir uns darauf, dass zwei Mannschaften aufsteigen.“ Heyne verkörpert den FCM des neuen Jahrtausends wie kein anderer. Er ist ein Fachmann. Kommentiert sachlich und gelassen. In den Pressekonferenzen schaut er verschüchtert zu Boden und nennt seine Spieler beim Vornamen. Zurzeit kann er trotzdem kaum noch unbemerkt durch die Stadt gehen. Zu groß ist die Freude.

Heyne, 49, der ehemalige Torwart, der für den FCM 323 Oberliga- und 34 Europapokalspiele bestritt, erinnert sich gern an die guten Zeiten. Als einziger DDR-Verein gewann der FCM 1974 den Europacup der Pokalsieger, im Finale gelang ein 2:0 gegen den AC Mailand. Drei Meisterschaften und sieben Pokalsiege komplettieren die Liste der Erfolge. Nach der Wende jedoch versank der FCM wie viele andere ostdeutsche Vereine in der Tiefebene des Fußballs. Mit einem Unterschied: Magdeburg ist sportlich nie abgestiegen. 1991 verpasste die Mannschaft die Qualifikation für den Profifußball. Auch der Sprung in die neugegründete Regionalliga misslang. Nach einer Insolvenz 2002 landete der FCM in der Oberliga. Er nistete sich ein im Chaos und verschwendete Millionen. „So durfte der Klub nicht zugrunde gehen“, sagt Volker Rehboldt, der Präsident. Mit Grausen denkt er an die Tournee über die Dörfer zurück. An das Mitleid und die Häme.

In der Chefetage traten neue Figuren auf, und mit ihnen kamen Besonnenheit und Konstanz. Inzwischen erhält der Klub die Lizenz ohne Auflagen. 140 Sponsoren zählt der Verein, viele Firmen haben ihre alte Liebe im Zuge dieses Booms neu entdeckt. „Wir haben eine Traditionsmarke wieder zum Leben erweckt“, sagt Rehboldt, ein leitender Angestellter der ansässigen AOK. Mit der Eröffnung des neuen Stadions im vergangenen Dezember wuchsen die Vermarktungsmöglichkeiten und das Zuschauerinteresse. Lediglich 300 Dauerkarten hatte der Klub vor der Saison verkauft; inzwischen pilgert die halbe Stadt ins Ernst-Grube-Stadion. „Der Verein ist in eine neue Dimension vorgestoßen“, erzählt Rehboldt, „alle Fans, die die Spiele jahrelang nur am Videotext verfolgt haben, kommen plötzlich wieder ins Stadion.“

Sollten die Magdeburger tatsächlich aufsteigen, würden sie die Zweite Liga nicht auf Biegen und Brechen halten wollen. Der Etat von 2,5 Millionen Euro würde sich durch Fernseheinnahmen verdreifachen. Trainer Heyne hat den Aufschwung mit vielen einheimischen Talenten bewerkstelligt. „Wir werden diesen Weg weitergehen“, sagt Präsident Rehboldt. „Unser Konzept ist langfristig angelegt“. Er hat es nicht eilig, die Zeit im schwarzen Loch war lang genug.